Vera Pirozhkova und ihr Buch "Meine drei Leben. Autobiografische Skizzen"

AUS DEM BUCH

   

           Erstes Buch

          Zweiter Teil

                    Die Schulzeit

                    Das neunte Schuljahr

In der dritten Klasse hatten wir zwei neue Lehrer bekommen, in Mathematik und Physik. Der neue Mathematiklehrer, Michail Aleanxdrowitsch, war ein Absolvent der Pskower Pädagogischen Universität und der begabteste Schüler meines Vaters, nicht ohne pädagogisches Talent, so dass wir vollkommen zufrieden waren. Zu unserer bisherigen Physiklehrerin hatten wir ein gutes Verhältnis, aber es stellte sich heraus, dass sie nur das Institut für Lehrerausbildung absolviert hatte, so dass sie lediglich in Schulen mit sieben Jahrgangsstufen unterrichten durfte.

In der achten Klasse hat sie quasi illegal unterrichtet. Dieser haben wir nachgeweint, auch deshalb traten wir unserer neuen Physiklehrerin, Ekaterina Petrowna, feindselig gegenüber. Jedoch mussten wir anerkennen, dass sie sich in ihrem Fach auskannte und unterrichten konnte. Als Mensch blieb sie uns unsympathisch und man muss hinzufügen, dass sie nichts tat, um unsere Gunst zu gewinnen. Ihr Verhältnis zur Klasse blieb angespannt. Ich greife voraus, wenn ich erzähle, dass uns in der 10. Klasse unerwartet eröffnet wurde, dass unser langjähriger Klassenlehrer und Lehrer der russischen Sprache und Literatur, Wasilij Alexejewitsch Grinin, ersetzt und die neue Klassenlehrerin Ekatherina Petrowna werden würde. Wir waren aufgebracht und machten uns darauf gefasst, gegen sie zu kämpfen. Aber … sie richtete sich selbst an uns mit der Bitte, sie zu unterstützen und wurde plötzlich dermaßen charmant, dass uns Hören und Sehen verging.

Ein ganzes Jahr lang hat sie uns davor unterrichtet und wir hatten noch nicht einmal geahnt, dass sie über dermaßen viel Charme verfügte, dass sie dermaßen aufmerksam gegenüber Schülerinnen und Schülern sein konnte. Statt eines Kampfes kooperierten wir und es entwickelte sich sogar eine freundschaftliche Beziehung zwischen Lehrerin und Schülern. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie mancher Mensch beinahe schlagartig die Sympathie einer ihm gegenüber negativ eingestellten Gruppe von Leuten gewinnen kann. Aus dem Wunsch heraus, nicht manipuliert zu werden, haben ich mich lange gegen diese neue Gesinnungshaltung gesträubt, aber ich konnte nicht lange widerstehen, ich trat genauso wie die gesamte Klasse unserer neuen Klassenlehrerin mit Sympathie entgegen.

Um die Erzählung über rein schulische Probleme und Lehrer-Schüler-Verhältnisse, die in den höheren Klassen nicht mehr die gleiche Rolle spielten, wie in der achten, zu beenden, erwähne ich eine Studentin, die bei uns in Physik hospizierte. Einmal traf ich in der Straßenbahn unseren Geschichtslehrer, Pawel Semenowitsch, der unser Lieblingslehrer geblieben war, und er sagte mir vertraulich, dass seine Tochter, eine Studentin der Fakultät Physik, in unserer Klasse ein Praktikum machen und sie sich unwahrscheinlich vor den ersten Unterrichtsstunden fürchten würde. Ich antwortete abwehrend, dass er sie aufmuntern könne, wir würden ihr helfen.

Am nächsten Tag kam ich entgegen meiner Gewohnheit früher in die Klasse und erklärte: „Leute, hört mal zu: zu uns kommt als Praktikantin die Tochter von Pawel Semenowitsch, Olga Pawlowna, sie ist äußerst schüchtern und hat Angst vor den ersten Unterrichtsstunden, sie muss unterstützt werden“. Die Klasse erklärte sich lautstark einverstanden. Es erschien eine ganz und gar junge Olga Pawlowna, die dermaßen aufgeregt war, dass sie manchmal verstummte und kein Wort sagen konnte, aber die Klasse blieb ruhig und wartete geduldig solange sie mit sich selbst rang. Wenn sie uns ein Experiment zeigte, dass wir bereits gesehen hatten und kannten, gaben wir den Anschein, als sähen wir es zum ersten Mal, als wären wir äußerst erstaunt und als wäre alles für uns außergewöhnlich interessant. Und ihre Befangenheit löste sich und später konnte sie normal unterrichten.

Als die neue Verfassung verabschiedet wurde, die im Nachhinein als stalinistische bezeichnet wurde, beschlossen wir, wir die vier Freundinnen, politische Sachkenntnis zu entwickeln und versammelten uns bei uns, am Lautsprecher des Radios (sogar Grammophone besaßen auch in Pskow nur wenige und wirkliche Empfangsgeräte lediglich sehr wenige), um den Ausführungen Stalins zu folgen.

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Es kam auch Mila, eine Klassenkameradin. Wir versuchten, aufmerksam zuzuhören, aber der schwere georgische Akzent in Verbindung mit der damaligen schlechten Technik machte es fast vollkommen unmöglich, die Rede zu verstehen. Wir wurden der Sache schnell überdrüssig, fingen lediglich einige Phrasen auf und scherzten über diese. Mila schnappte eine Phrase zur Intelligenzija als Mittelschicht auf und sagte: „Lohnt es sich, so lange zu lernen, sich zu bemühen, um was zu werden…Mittelschicht!“ Ich antwortete jedoch: „Tröste Dich durch die Tatsache, dass Du jetzt mit anderen eine Klasse bildest“. Ihre ohnehin runden Augen wurden noch runder, als sie mich anschaute und ausrief: „Welche?“ Ich: „Die neunte.“ Allgemeines Gelächter. So ist aus der freiwilligen Auseinandersetzung mit Politik nichts geworden.

Aber später wurden wir unfreiwillig dazu genötigt. Wir gingen in irgendeinen Spielfilm und plötzlich zeigte man uns statt des Film diese Verfassungsrede Stalins. Wir wollten uns alle sofort heimlich aus dem Staub machen, aber die Türen waren verschlossen. Geschlagene 4 Stunden lang langweilten wir uns und hörten vollkommen bewusst nicht zu, obgleich die Technik besser war und man mit Müh und Not alle hätte verstehen können. Ich versuchte, die Narsan-Flaschen zu zählen, die Stalin während seiner Rede trank, diese wurden die ganze Zeit weg- und herangeschafft, aber ich verzählte mich und staunte die ganze Zeit darüber, dass ein Mensch so viel Flüssigkeit aufnehmen konnte. Jahre später, als der Krieg begonnen hatte, war ich, ungeachtet der frühen Stunde, in der Nähe des Krankenhauses auf der Straße, das war am 3. Juli, die Straßenlautsprecher gaben die Rede Stalins wieder, als er zum ersten Mal anfing zu schnurren: „Brüder und Schwestern …“, und ebenda das Sprudeln des Wassers zuhören war, das in ein Glas gegossen wurde. In diesem Moment lief eine junge Krankenschwester an mir vorbei und rief mit unsagbarer Verachtung: „Trink nur, trink…“

Aber als ich zum ersten Mal die neue Verfassung durchgelesen hatte, schien mir sie mir etwas Gutes zu beinhalten. Mich verunsicherte das, was viele Jahre später viele Dissidenten durcheinander brachte, nämlich der Artikel zu den unterschiedlichen Rechten und zur Freiheit: über Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit und dergleichen. Ich habe zu der Zeit der Präambel keine Beachtung geschenkt: „Zur Festigung und Verbreitung des Sozialismus“.
Als ich versuchte, mit meinem Vater über die neue Verfassung zu reden, fragte er lediglich, wie ich mich jetzt erinnere, im Gehen, eine Gießkanne in den Händen und unsere zahlreichen Zimmerpflanzen gießend: „Und ist die führende Rolle der Partei in der Verfassung festgehalten?“ Ich bejahte. „Nun, dann bleibt alles beim Alten“, sagte er.

Mein Vater hatte Recht. Aber warum machte er sich dennoch nicht die Mühe, diesen verführerischen Paragraphen durchzulesen und mir die Bedeutung der Präambel zu erklären? Sein genaues Auge eines Mathematikers hat sofort den Fallstrick erkannt. Die schwache Hoffnung, dass die neue Verfassung irgendetwas zum Besseren wenden würde, veränderte nicht das emotionale Verhältnis zum System und zu Stalin persönlich, ebensowenig zum „eisernen Volkskommissar (für das Eisenbahn- und Transportwesen)“ Kaganowitsch, dessen erbarmungslose Augen von der Wand des Klassenzimmers und der Schulaula auf uns schauten, da unsere Schule zur Eisenbahn gehörte. Schon in der 8. Klasse hatten wir einmal über das Gedicht Lermantows „Traurig schaue ich auf unsere Generation…“ gesprochen und suchten halb im Scherz Beispiele in unserem Leben für die Worte: „Und kann ohne Furcht weder hassen noch lieben“. Ein Beispiel für Liebe in Verbindung mit Furcht haben wir nicht finden können, aber als Beispiel für Hass schlug irgendjemand unseren damaligen Mathematiklehrer Alfred Alfredowitsch vor. Aber das war ein Scherz, wir haben ihn weder gehasst, noch gefürchtet.

Später habe ich in mein Tagebuch geschrieben, dass ich ein vollkommen anderes Beispiel für Hass in Verbindung mit Furcht kenne, aber ich habe es nicht laut ausgesprochen und auch nicht in mein Tagebuch eingetragen. Ich dachte an Stalin.

Und dennoch hatte ich einen zeitweiligen Anflug bitteren Hasses, der sogar den Hass gegen Stalin überdeckte, gegenüber einem Menschen, der scheinbar keinen Hass hervorrufen sollte. Dieser Mensch war Romain Rolland. Seine Ankunft in der UdSSR, seine heuchlerisch-gönnerhafte Anerkennung des Systems und, noch viel schlimmer, der Ratschlag an uns, dass wir uns glücklich schätzen sollten, in einem solchen Land zu leben, während wir erstickten, lösten bei mir Zorneswallungen und scharfen Hass gegenüber diesen Schriftsteller von Weltruhm aus, der in Freiheit lebte und uns mit seinen Worten noch tiefer in diesen schrecklichen, alles verschlingenden Sumpf stieß, aus dem es kein Entrinnen gab.

Wie konnte er, wenn er nicht wusste, nichts verstand oder … hatte er sich an sie verkauft? Stalin war Feind Nr.1, das alles war für uns klar. Aber dieser Verräter an der Menschlichkeit! Dafür fühlten wir eine solche Freude und Erleichterung, als wir hörten, dass André Gide nach seiner Rückkehr wenigstens teilweise die Wahrheit schrieb. Bereits im Exil erzählte mir F.

A. Stepun, dass Romain Rollan von seiner Frau der Kopf verdreht wurde. Vor der Revolution war sie Gouvernante in Russland in irgendeiner aristokratischen Familie, heiratete einen alten russischen Fürsten und war bald verwitwet. Bereits in Frankreich heiratete sie Rolland.

Ihre sentimentale Zuneigung zum Land ihres ersten Mannes verwandelte sich in einen bizarren Sowjetpatriotismus, der eigentlich nicht zu einer früheren Fürstin passte. Sie schleppte ihren zweiten Mann in die UdSSR. Dort lebte ein Verwandter ihres ersten Mannes, ebenfalls irgendein Fürst, in absoluter Armut. Die Rollands äußerten den Wunsch, ihn zu treffen. Man stöberte den Fürsten auf, warf ihn in Schale, gab ihm schnell etwas zu essen und präsentierte ihn den Rollands. Sie brachten ihren Wunsch zum Ausdruck, dass dieser sie in Paris besuchen solle. Und dieser Bitte eines Gastes, die dermaßen wichtig für die sowjetische Propaganda war, sollte entsprochen werden. Ein wenig später fuhr dieser Fürst über Deutschland nach Paris und besuchte unterwegs die zu dieser Zeit noch in Dresden lebenden Stepuns.

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Voller Stolz brachte er ihnen ein Geschenk mit – einen ganzen Koffer voller Zwieback. Die Stepuns zwinkerten mit den Augen und konnten nicht verstehen, was dieser Traum bedeutete, auch der Fürst war seinerseits verwirrt: die sowjetischen Zeitungen schrieben zu der Zeit, dass in Deutschland ein solcher Hunger herrschte, dass die Menschen auf der Straße umkippten und vor Hunger starben. Ich erinnere mich daran und auch daran, wie ich schmunzelte und kein Wort dieser Propaganda glaubte. Aber dieser alte Fürst jedoch glaubte sie. Er wollte die Stepuns vor dem Hungertod retten … mit Zwieback!

Indes waren 1936 und zum großen Teil auch 1937 in Bezug auf die alltäglichen Lebensbedingungen sehr gute Jahre in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit wurde beseitigt, die Versorgung war gut, die Losung Görings „Kanonen statt Butter“ war noch nicht aktuell.

Weshalb glaubten wir Jugendlichen, die in unter der sowjetischen Herrschaft geboren und aufgewachsen sind, nicht an ihre Propaganda, während alte Aristokraten, die die Möglichkeit hatten, im reiferen Alter ihre Entstehung zu verfolgen, ihre Grausamkeit und Lügen vom aller ersten Tag, von ihr verführt wurden?

Ich war bereits 15 Jahre alt, und ich konnte wegen meines Alters dem Komsomol beitreten. In unserer Klasse gab es 65% Komsolmolzen und 35%, die dem Komsomol nicht angehörten, ich erinnere mich gut an das Diagramm an unserer Klassenwand. Komsomol-Aktivisten gab es jedoch in unserer Klasse nicht. Niemand übte auf mich Druck aus. In der 10. Klasse, die als erste in unserer Schule die zehnjährige Schulausbildung absolvierte, gab es eine eifrige Aktivistin namens Sonja. Einmal lief sie in der Pause an mir und Walja vorbei, blieb stehen und wendete sich an mich: „Wann wirst denn Du dem Komsomol beitreten?

Alle Deine Freundinnen sind im Komsomol.“ Zur Verteidigung verwies ich erneut auf meine Krankheiten, obgleich dieses Argument mittlerweile nicht mehr ganz überzeugend geworden war: Meine Diphtherie im Herbst 1935 war meine letzte Erkrankung, und danach war ich weder in der achten noch in der neunten Klasse erkrankt. Aber ich habe dennoch angefangen darüber zu reden, wie oft ich früher krank gewesen wäre und keine ehrenamtliche Tätigkeit ausüben konnte, und der Komsomol ohne ehrenamtliche Tätigkeiten – was wäre das für einer? Jetzt, richtig, würde ich weniger oft erkranken, aber man müsse noch abwarten. Walja hat mich sofort unterstützt: „Sie hatte in der Tat nicht gewusst, dass sie aufhören würde, zu erkranken“. Sonja ließ ab und belästigte mich nicht mehr.

Später sagte Katja einmal: „Vera, wenn Du in den Komsomol möchtest, ist es besser, dies noch während der Schulzeit zu tun, hier können wir füreinander einstehen, in der Universität wird es schwieriger“. Für mich antwortete die dabei stehende Walja: „Vera wird niemals dem Komsomol beitreten“. Ich blieb stumm, was ein Zeichen der Zustimmung war. Katja hakte, natürlich, nicht weiter nach.

Nichtsdestotrotz war ich kurz in Versuchung. Wie dies angesichts meiner Haltung zur Sowjetmacht und Stalin erklärbar ist? Die Beweggründe waren lokalen Charakters. Wären um mich herum Komsomolzen und Komsomolzinnen vom Schlage Sonjas gewesen, Aktivisten, die ich verabscheute, wäre mir ein solcher Gedanke noch nicht mal in den Sinn gekommen. Aber in meiner Klasse, in die ich mich damals bereits eingelebt hatte und als dessen Teil ich mich empfand, gab es keine Aktivisten. Von keinem unserer Komsomolzinnen und Komsomolzen habe ich Worte der Verteidigung hinsichtlich des Marxismus-Leninismus, noch ein Lob auf die Sowjetmacht hören können. Darüber wurde einfach nicht gesprochen.

So dass die Illusion entstand, dass man irgendetwas Nutzbringendes auf lokaler Ebene tun, sich stärker in die Gruppe integrieren könnte, deren Mehrheit doch im Komsomol war und sich dabei nicht beschmutzte. Die abseitige, beinahe insulare Lage unserer Schule, insbesondere unserer Klasse, verwischte die Konturen des tatsächlichen Komsomol. „An der Universität wird es anders“, sagte Katja und hatte dabei die Schwierigkeiten in Bezug auf einen Beitritt in den Komsomol im Auge. Aber an der Universität erwies es sich anders in einem ganz anderen Sinne, und selbst Katja bedauerte es sehr stark, dass sie während der Schulzeit dem Komsomol beitrat.

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So oder so sagte ich voller innerer Zweifel einmal zu meinem Vater: „Papa, was wäre, wenn ich dem Komsomol beitreten würde?“ Mein Vater antwortete pädagogisch richtig – für diesen Moment: „Du bist mit Deinen fünfzehn viel zu jung für Politik. Wenn Du in drei Jahren immer noch dem Komsomol beitreten möchtest, werde ich dem nichts entgegensetzen“. Ich spürte Erleichterung durch die faktisch aufgeschobene Entscheidung. Drei Jahre waren nicht nötig, bereits nach einem halben Jahr blieb nicht einmal mehr der Schatten eines Wunsches, dem Komsomol beizutreten. Und dennoch frage ich mich, weshalb mein Vater später nicht mit mir gesprochen hatte, mir nicht verdeutlicht hatte, dass man sich auf dem kleinen Inselchen unserer Schule nicht halten konnte? Oder wollte er, dass ich selbst zu diesem Schluss kam?

Die erste Entlassungsfeier unserer Schule war ein Festakt; wir, die wir uns an der Grenze zur 10. Klasse befanden, wohnten dieser, natürlich, auch bei. Von den Absolventen trat die Aktivistin auf. Sie dankte nicht mit einem Wort der Schule, oder den Lehrern, die sich bemühten, uns etwas zu geben, sondern vergeudete ekstatische Begeisterung für die Partei und die Regierung. Ich hörte angewidert zu und gab mir inwendig das Versprechen, dass wir im nächsten Jahr, bei unserer Entlassungsfeier kein Wort des Dankes an die Partei und Regierung zum Ausdruck bringen würden. Ich sollte mein Versprechen nicht brechen müssen.

Selbstverständlich konnten wir nur selten weit verreisen. Gewöhnlich verbrachten wir den Sommer in einem der Dörfer um Pskow und in den letzten Jahren immer im demselben Dorf. Mit Hündchen und Kätzchen, mit unserem ganzen Kram machten wir uns ins Dorf auf (wenn wir weiter verreisten, wohnten Bekannte in unserer Wohnung und kümmerten sich um die Tiere). Das Pferd verlieh unser Hausherr an die Kolchose, was ihm sehr gut gelang. Sie gaben uns die Sommerhälfte ihrer Kate und benutzten selbst die Winterhälfte.

Dort war es bisweilen heiß, und man musste auch im Sommer den Ofen anheizen, um das Essen zuzubereiten. Wir brachten deshalb einen Petroleumkocher mit und kochten mit diesem. Das Dorf war altgläubig, und eher strenger und sauberer als das „weltliche“, wie die Altgläubigen sagten, auf der anderen Seite des Flusses. Bereits die Tatsache, dass es in der Kate untersagt war, zu rauchen, war gut für die Kinder, da die Luft sauber blieb.

Sie haben sich eine starke moralische Festigkeit erhalten. Mich hat zu dieser Zeit ein Ereignis in Erstaunen versetzt. In einer jungen Familie, die bereits drei Kinder hatte – Bauern hatten zu der Zeit viele Kinder, 6 oder 7 Kinder waren keine Seltenheit – wurde die Frau erneut schwanger. Da sie sich schlecht fühlte, ging sie in die Stadt zum Arzt (Kommunikationsmittel mit der Stadt existierten nicht, die Bahnstation war drei Kilometer entfernt, oder man ging die 12 Kilometer in die Stadt zu Fuß). Man diagnostizierte bei ihr Tuberkulose und riet zu einer Abtreibung, da nur in diesem Fall Hoffnung auf ihre Rettung bestand. Ihr wurde gesagt, dass das Kind gesund geboren, aber jegliche Energie aufbrauchen würde, und man sie nicht retten könnte. Die junge Frau, Mutter von drei Kindern, antwortete unbeirrt, dass sie kein Recht hätte, das Kind zu töten. Das Kind sollte Leben und alles weitere entscheide Gott. Sie trug es aus und gebar ein gesundes Kind, aber sie selbst starb.

Der junge Witwer stellte auf dem kleinen Friedhof ein gewaltiges Kreuz auf, kümmerte sich rührend um das Grab und um die Kinder, nahm eine ältere Frau für die Kinderbetreuung in die Kate auf. Übrigens war der Friedhof wunderschön: er lag auf einer Anhöhe, inmitten von alten, riesigen Kiefern, auf einer von diesen war ein Storchennest. Man konnte oft beobachten, wie der Storch in seinem Schnabel vor dem klaren Abendhimmel eine sich windende Schlange ins Nest trug.

Das Dorf, das aus 40 Höfen bestand, wurde von einer Familie angeführt. Ich erinnere mich noch an den Patriarchen und an seine 12 Söhne, die mit ihren Familien im Dorf lebten.

Ich bin froh, dass ich als Heranwachsende einen der besten Repräsentanten des russischen Bauerntums kennenlernen durfte, ein des Schreibens unkundigen, geistreichen, nein, vielmehr weisen alten Mann, einen wahrhaftigen Patriarchen, vor dessen Autorität sich die bereits nicht mehr jungen Söhne sowie die erwachsenen Enkel und Enkelinnen beugten, der jedoch niemanden unter Druck setzte oder tyrannisierte, sondern Probleme besonnen nach langer Beratschlagung mit denjenigen Verwandten löste, die diese betrafen. Bereits zu dieser Zeit habe ich begriffen, dass eine oberflächliche Bildung, nicht nur nicht Verstand verleiht, geschweige denn Weisheit, sondern nicht selten auch des Verstandes beraubt, der im Vorfeld vorhanden war. Weisheit entsteht durch die Wahrnehmung des Lebens, der Natur und die Versenkung ins Gebet. Ich erinnere mich auch an den Tod des bereits sehr alten Patriarchen. Das gesamte Dorf kam zusammen, nicht nur die Söhne und ihre Familien. Er starb würdig, ruhig, im Gebet versunken.

Das Dorf war in Freundschaft verbunden und ungeachtet der Kolchosen lebte es nicht in Armut. Begreiflicherweise gab es nur so viele Kühe wie es Höfe gab, sprich 40, während früher selbst die Ärmsten mindestens zwei Kühe besessen hatten. Kolchosekühe existierten nicht, und statt des Minimums von 40 Pferden (wenigstens eines für jeden Hof) gab es 9 Kolchosepferde. Nichtsdestotrotz hungerten sie nicht, jedenfalls nicht die Mitglieder einer großen Familie.

Von einem der jüngeren Söhne des Patriarchen mieteten wir auch die Sommerkate. Lediglich einer der Brüder verschwand spurlos. Während des Ersten Weltkrieges war er in deutscher Gefangenschaft und sprach hochachtungsvoll von den gesunden deutschen Landwirtschaftsbetrieben.

Er erwartete offen die Ankunft der Deutschen, begriff natürlich nicht, dass dies bereits andere Deutsche waren und sagte frei: „Jetzt kommen die Deutschen, die lösen die verfluchten Kolchosen auf, und bei uns wird es wieder Landwirtschaft geben“. Ein Denunziant fand sich trotzdem, er wurde verhaftet, verschwand ohne Nachricht. Die zurückgebliebenen Brüder und deren Familien halfen der verwaisten Familie. Den anderen Familien im Dorf erging es schlechter, sie verfügten nicht über eine solche starke Gemeinschaft, wie die 12 Brüder.

Ich werde mich immer daran erinnern, wie ein siebzehnjähriges Mädchen aus einer bedürftigeren Familien mit unsagbarer Traurigkeit zu mir sagte: „Ich würde gern wenigstens im Traum einmal sehen, wie es sich früher lebte, während des Zarens, wie es Mama erzählt“.

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          Die Zehnte Klasse

Da wir einen guten Mathematiklehrer gefordert hatten, führten wir eine Variante der Fabel über die Frösche, die sich einen König erbaten, von Krylow auf. Ein Schüler meines Vaters, begabt und kundig, aber ausnehmend streng, Michail Alexandrowitsch, ließ in der Zwischenprüfung genau die Hälfte der Klasse durchfallen. In der neunten Klasse hatten wir 26 Schüler und Schülerinnen, in Mathematik fielen 13 Schüler durch. Im Herbst fand eine Nachprüfung statt, aber diese bestanden lediglich zwei.

So begannen wir die 10. Klasse mit 15 Schülern: 9 Mädchen und 6 Jungen. Dafür war die Klasse sehr stark. Um den Konkurrenzkampf zu fördern, dachte sich der Schulleiter eine Tafel aus, auf welcher die Klassen alle zehn Tage in eine Rangliste geordnet nach den Noten, die innerhalb dieser zehn Tage erhalten wurden, eingetragen wurde. Der Schulleiter versprach, dass den Schülern einer Klasse, die drei mal hintereinander den ersten Platz einnehmen würde, Theaterkarten gekauft würden (gerade gastierte ein Leningrader Theater). Der Schulleiter war überzeugt, dass keine Klasse dreimal hintereinander den ersten Platz einnehmen würde, was zeigte, wie schlecht er seine Schule kannte. Wir schmunzelten lediglich.

Natürlich nahm unsere Klasse ohne Mühe sofort dreimal hintereinander den ersten Platz ein. Für Theaterkarten wurde kein Geld gesammelt, aber uns wurden Kinokarten gekauft. Die folgenden drei Male erreichten wir mit ebensolcher Leichtigkeit den ersten Platz, anders ausgedrückt, wir lagen bereits zum sechsten Mal auf dem ersten Platz und hatten in keiner Weise vor, diesen abzugeben. Uns wurden nochmals Kinokarten gekauft, aber danach verschwand die Tafel und über Konkurrenzkampf wurde kein weiteres Wort verloren.

Interessanterweise war die 9. Klasse, die uns direkt folgte, außergewöhnlich schwach und Michail Alexandrowitsch erwähnte mehrmals in unserer Klasse, dass er nicht wisse, wie er sich der 9. Klasse gegenüber verhalten solle. Manchmal wurden uns aus der Hauptstadt Mathematikaufgaben gesendet, die vor der gesamten Klasse geöffnet wurden, die Klasse sollte eine Klassenarbeit schreiben, die Blättchen wurden eingesammelt und in die Hauptstadt geschickt, woher danach die Noten kamen. In unserer Klasse gab es nicht einmal ein Note niedriger als vier, sogar unsere Dreierkandidaten schrieben Vieren, da die Aufgaben aus der Hauptstadt im Vergleich zu denen, die uns M.A. gab, leicht waren. In der 9. Klasse niemand in der Lage, auch nur eine Drei zu schreiben. Gegen die Vorschrift schaute sich der Schulleiter, selbst Mathematiker, die Arbeiten an und erschrak. Erneut wurde gegen die Vorschrift den Schülern der 9. Klasse dieselbe Arbeit nochmals vorgelegt, nachdem diese im Vorfeld auf diese trainiert wurden. Lediglich zwei schrieben eine Drei, der Rest nicht besser als Zwei. So mussten diese auch in die Hauptstadt gesendet werden.

In der 10. Klasse wurde ich zur Klassensprecherin gewählt. Dass ich keine Komsolmolzin war, war in keiner Weise hinderlich.

Wir mussten mit einem neuen Lehrer die Geschichte der Partei lernen. Er war ein vergleichsweise junges Parteimitglied, wenig intelligent und ziemlich einfältig. Er glaubte aufrichtig alles, was man ihm eintrichtert hatte, konnte sich nicht vorstellen, dass aus manchen seiner Worte eine von ihm völlig unbeabsichtigte Schlussfolgerung gezogen werden konnte. So stieß er beispielsweise entrüstet hervor: „Bucharin, dieser Abschaum, sagte, dass es bei uns keinen Sozialismus gebe, sondern einen staatlichen Kapitalismus“. Ich habe sofort gedacht: „Aber das entspricht doch der Wahrheit. Das gesamte Kapital befindet sich in den Händen eines einzigen Monopolisten – des Staates.“

Die berühmte „Kurze Geschichte der WKP (b)“ wurde im Frühling 1938 herausgegeben. Zur Abschlussprüfung bereiteten wir uns bereits anhand dieses Buches vor, aber ein ganzes Jahr mussten wir jedes Wort des Lehrers aufschreiben, da wir das Buch noch nicht besaßen. In den Notizheften kamen manchmal verzerrte Worte und Phrasen zustande. So zeigte mir Walja einmal lachend ein Heftchen, in welchem stand, dass Lenin in einem Kringel statt in der „Öffentlichkeit“ saß, als er seine berühmten Worte rief, dass es eine solche Partei gebe (die bereit ist, die Macht zu übernehmen).

Aber ich war im Besitz einer viel gefährlicheren Notiz. Unser Lehrer sagte: „Die Partei verdeutlichte dem Volk, dass es keinen Krieg benötigte“. Aber ich notierte: „Die Partei verdeutlichte dem Volk, dass es sie nicht benötigte“. Als ich diese Notiz in meinem Heft zutage brachte, dachte ich, dass ich ohne Absicht die vollkommene Wahrheit geschrieben habe, aber ich zeigte sie niemandem und vernichtete das Blatt.

Die Zeitung „Iskra“ wurde in Pskow gegründet. Das kleine Häuschen, in dem das erste redaktionelle Treffen stattgefunden hatte, wurde nach der Revolution in ein Museum verwandelt und trug den Namen „Haus der „Iskra““. Dorthin führte uns einmal unser Lehrer. In einem Zimmer hing ein großes Bild dieses ersten Treffens. Ahnungslos sagte unser Pädagoge: „Auf der Sitzung waren außerdem Martow, Axelrod und Wera Sassulitsch zugegen, sie waren auch auf dem Bild. Aber später ließ man den Künstler kommen und forderte, dass er sie übermalt!“ Wir begehrten auf: dies sei doch eine Falsifizierung der Geschichte.

Er geriet völlig aus dem Takt, ihm schien die Übermalung als eine Selbstverständlichkeit, und dennoch rebellierten an Ort und Stelle die Jugendlichen. „Nein, wir verzerren überhaupt nichts“, sagte er, „wir sagen euch doch, dass sie auf der Sitzung waren. Aber wozu wollt ihr ihre Gesichter sehen?“ Ich habe später mehrmals über diese Furcht vor Gesichtern nachgedacht. Sie war überall sichtbar. So konnte man nirgendwo ein Bild Trotzkis sehen und sogar während der kurzen Zeit der Freundschaft mit Nazideutschland war nirgends ein Portrait Hitlers zu sehen. Ehrlich gesagt, verstehe ich auch jetzt nicht, was sie fürchteten. Meiner Meinung nach besaß keiner von ihnen ein besonders ansprechendes Gesicht, Trotzki und Hitler besaßen sogar abstoßende Gesichter. Also wovor hatten sie Angst?

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Während das schulische Leben seinen geregelten Lauf nahm, breitete das Jahr 1937 seine schwarzen Flügel über uns, als es bereits dem Ende zuging. Erneut wurden der Vater und der ältere Bruder Sinas verhaftet. Ihr älterer Bruder war zu dem Zeitpunkt verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Dieses Mal nahm die Geschichte kein gutes Ende, die Männer kehrten nicht zurück, und die Familien mussten Pskow verlassen und wurden auf dem berühmten 101. Kilometer verbannt. Auch der Vater Lidas, ein Lokführer, wurde verhaftet. In Pskow wurden damals beinahe alle Lokführer verhaftet, es gab niemanden mehr, der in der Lage war, die Züge zu führen, man suchte unter den Lokführern der Rotarmisten mit zivilberuflicher Ausbildung und setzte sie in Dampfloks.

Lida, eben selbige, die mich in der 8. Klasse zu ihrer exklusiven Freundin machen wollte, war die zweite Tochter in der Familie. Ihr ältere Schwester arbeitete bereits, aber es gab noch drei kleine Mädchen, insgesamt also fünf Töchter. Unsere gesamte Klasse wünschte Lida, wie sie selbst, einen Bruder, als ihre Mutter das letzte Kind erwartete. Aber sie gebar eine fünfte Tochter. Nun sollte die Mutter mit drei kleinen Töchtern ins Unbekannte ziehen. Sina und Lida wurde erlaubt, bis zum Ende der Schulzeit in Pskow zu bleiben.

Beide kamen bei Verwandten unter. Die ältere Schwester von Lida begleitete die Mutter, um dieser und den jüngeren Schwestern zu helfen. Mir fällt es schwer jenen zu glauben, die erzählen, Mitschülerinnen und Mitschülern hätten sich von jenen abgewandt, deren Väter verhaftet worden waren. Von Sina und Lida hat sich niemand in unserer abgwandt. Wir waren alle niedergeschlagen und fühlten aus vollem Herzen mit. „Oh, wie ich sie hasse!“, brach es einmal aus Sina heraus.

Sina und Lida wurden natürlich aus dem Komsomol ausgeschlossen, worüber weder die eine noch die andere traurig war. Kürzlich sah ich zufällig einen zutiefst verlogenen sowjetischen Film über die Zeit der Umgestaltung. In diesem Film nahm sich ein Schülerin, deren Vater verhaftet worden war und der der Ausschluss aus dem Komsomol drohte, das Leben, damit sie als Komsomolzin ihr Leben beenden konnte. Das ist eine abscheuliche Lüge, keines der Kinder von Verhafteten hat sich so verhalten Allgemein war die gesamte Atmosphäre des Filmes verlogen und unterschied sich diesbezüglich in keiner Hinsicht von den propagandistischen Filme der Stalinzeit.

In der Stadt fanden überall Verhaftungen statt. Während in früheren Jahren in erster Linie Russen verhaftet wurden, waren jetzt viele Bürger nichtrussischer Herkunft bedroht: baltische Deutsche, Letten, Esten, Polen, selbst diejenigen, die eigentlich vollkommen russifiziert waren. Der Vater Sina war, wie ich bereits erwähnt hatte, lettischer Herkunft, und der Vater Lidas polnischer, obgleich sie so weit russifiziert waren, dass sie lediglich die russische Sprache beherrschten. Es gab jedoch auch solche, die zu Hause ihre Herkunftssprache sprachen. Am Stadtrand befand sich ein katholischer Friedhof, der als Polnischer Friedhof bezeichnet wurde, und die sich bei diesem befindliche katholische Kirche war zu jener Zeit, natürlich, bereits geschlossen worden. In Pskow lebten viel mehr Lutheraner als Katholiken, und die im gotischen Stil gebaute lutheranische Kirche befand sich auf der Hauptstraße der Stadt, im Zentrum.

Diese wurde nicht nur geschlossen, sondern auch ihre beiden Türme mit ihren gen Himmel gerichteten Turmspitzen aus Ziegel wurden demontiert. Jedoch wurden bei der Demontage die Türme einfach niedergerissen. So stand sie da, ein missgestalteter, stummer Vorwurf der atheistischen Machtspitze. Der Zerstörung der Kirchen fielen nicht nur andere Konfessionen zum Opfer: von den orthodoxen Kirchen wurde eine nach der anderen geschlossen, und zwei Jahre vor Kriegsbeginn wurde auch die letzte noch offene Kirch bei dem Friedhof, auf dem meine Oma und mein Opa mütterlicherseits und mein kleiner Bruder Georgij lagen, geschlossen. Der Friedhof befand sich nicht weit von dem Haus, in dem wir lebten, und ich flüchtete als Kind oft allein dorthin. Seit meiner Kindheit liebe ich Friedhöfe, den Frieden und die Ruhe.

In Pskow steht in der Festung auf einer Anhöhe, dort, wo die Pskowa in den breiten, majestätischen, langsam fließenden Fluss Welikaja mündet, eine malerische Kathedrale mit fünf Zwiebeltürmen. Ich erinnere mich daran, wie enttäuscht ich vom Rhein war, als ich diesen das erste Mal erblickte: dieser vergleichsweise schmale Fluss sollte der berühmte Rhein sein? Welch ein Vergleich zur Welekaja? Die Ufer des Rheins sind, natürlich, malerischer als die flachen Ufer des Welikaja. Am Ostufer des Welikaja befand sich früher eine Mauer mit Türmen. Im Falle eines Angriffs aus dem Westen verteidigte sich die Stadt von diesen Mauern aus und versorgte sich aus der Pskowa, die in den innerstädtischen Bereich fließt, mit Wasser.

An der Mündung der Pskowa wurden in den Fluss Eisengitter eingelassen, damit der Feind nicht über den Fluss in die Stadt schwimmen konnte. Pskow überstand den Überfall des polnischen Königs Stephan Bathory und des schwedischen Gustav Adolf, die Türme wurden dort, wo diese ihre Angriffe führten, nach ihnen benannt. Neben dem Turm Stephan Bathory konnte sich ein Denkmal für die Soldaten des Fürsten Iwan Petrowitsch Schuiski erhalten, der unter Iwan dem Schrecklichen die Stadt verteidigte und mit seinen Soldaten das Kreuz küsste, um gemeinsam mit ihnen zu schwören, dass sie eher sterben, als die Stadt aushändigen würden. Zu meiner Zeit waren die Mauern und Türme durch die Witterung stark verfallen und wir Kinder kletterten auf ihnen herum. Mittlerweile wurden sie erneuert.

Der Überlieferung zufolge hat die Heilige Fürstin Olga, die Pskowerin war, das erste Kreuz in der Festung aufgestellt. Später wurde dort eine Holzkathedrale gebaut, die niederbrannte, erneut aufgebaut wurde,wieder niederbrannte, bevor sie eine Kathedrale aus Stein bauten, die bis zum heutigen Tage steht. Aus der Kathedrale wurde natürlich ein antireligiöses Museum gemacht. Ich habe bereits einmal erwähnt, dass dort das unablässig Kreise ziehende Foucaultsche Pendel hing und ich wurde gefragt, welche Beziehung dieses Pendel zur Religion oder zum Atheismus habe. Für einen intelligenten Menschen existierte keine, aber für die sowjetischen Atheisten sollte es die Existenz Gottes widerlegen, da es verdeutlicht, dass sich die Erde um seine eigene Achse dreht. Diese Gottlosen glaubten immer noch, dass sich die Kirche nach dem Ptolemäischen Weltbild richtete, aber niemand orientierte sich mehr an diesem.

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Doch die sowjetischen Propagandisten „ritten“ ständig auf den Prozessen gegen Galilei und Giordana Bruno herum, obgleich der letztere nicht wegen seiner wissenschaftlichen Entdeckungen verbrannt wurde. Das erinnert mich daran, dass vor dem Krieg der Leningrader Radiosender eine Rubrik für kritische Briefe einführte, die sicherlich in der Redaktion geschrieben wurden, wer wagte es zu der Zeit, wenngleich nicht hämische doch kritische Briefe zu schreiben? Aber einer von diesen war scharfsinnig. Er lautete: „Ihr verbrennt viel zu häufig Giordana Bruno, seht, dass ihr euch nicht selbst niederbrennt“.

Früher gab es neben der großen Sommerkathedrale eine beheizbare Winterkathedrale, die nicht sehr groß war. Dort wurden im Winter die Gottesdienste abgehalten, in der großen Kathedrale war es zu kalt. Diese Winterkathedrale wurde in ihre Ziegelsteine zerlegt und aus diesen ein einziges Wohnhaus innerhalb von 24 Jahren Sowjetmacht gebaut, obgleich Pskow überbevölkert war. Insbesondere während der Kollektivierung fluteten Bauern, die vor der Armut auf dem Lande flüchteten, die Stadt. Möglicherweise wurden auch die Türme der lutheraner Kirche für dieses Haus benutzt, aber die übrigens Ziegelsteine wurden nicht gebraucht.

Aber kehren wir zu den Verhaftungen der Jahre 1937-1938 zurück. Während in früheren Jahren mehr der so genannten „Ehemaligen“ verhaftet wurden, wurden später alle diejenigen verhaftet, hinter denen geheime Widersacher vermutete wurden, obgleich unter diesen auch vollkommen unpolitische Menschen waren, wie der Landwirt Guljajew oder der Stationsvorsteher Maslennikow, von denen ich bereits berichtet habe, das heißt, mehrheitlich Russen und, natürlich, Nichtmitglieder der Partei. Aber in diesen Jahren fielen auch viele Parteimitglieder der Verhaftungswelle zum Opfer, unabhängig von ihrer Nationalität, und von den Nichtmitgliedern der Partei, worauf ich bereits hinwies, ein großer Prozentsatz von Menschen, die nicht rein russischer Herkunft waren. So wurde eine Lettin verhaftet, eine Chirurgin, die schwierige Herzoperationen durchführte. Wir hatten Ärzte im Bekanntenkreis, und diese sagten, dass bisher niemand sonst derartige Operationen durchführte und wenn von diesen in der Presse berichtet würde, dies eine Weltsensation darstellen würde.

Alle ihre Kollegen warteten darauf, dass sie nach Leningrad oder Moskau berufen und ihr ein größeres Tätigkeitsfeld gewährt würde. Stattdessen wurde Ljuzija Saulit am 21.09.1937 verhaftet und bereits am 08.12.1937 erschossen. Die Tatsache, dass unter den Verhafteten viele Kommunisten waren, machte diese Jahre besonders berüchtigt. Leider richtete und richtet sich die gesamte Weltpresse zu einem gewissen Grade nach Kommunisten oder früheren Kommunisten, aber diese zählen lediglich die eigenen Leute und poltern nur gegen Terror, wenn dieser gegen sie selbst gerichtet ist. Unterdessen fanden fortwährend Massenverhaftungen statt.

Die Familie Sinas zog nach Nischni Nowgorod, das in Gorki umbenannt wurde; die Familie Lidas zog nach Kasan.

Wir gingen weiter unseren Studien nach. Was sollten wir tun? Die Abschlussprüfungen unserer Klasse verliefen glänzend. Der aus der Hauptstadt angereiste Vertreter nahm an der mündlichen Prüfung in Literatur teil und war gänzlich begeistert: „Das sind keine Schüler der zehnten Klasse, sondern geborene Redner!“, sagte er. Wasilij Alexejewitsch leuchtete. Ich erinnere mich, dass ich eine für mich abstoßende Aufgabe bekam – „Wolke in Hosen“ von Majakowski, den ich nicht ausstehen konnte. Aber auch ich vermochte, hinreichend zu erzählen, um den Repräsentanten aus der Hauptstadt zu erstaunen. Ich erinnere mich, wie wir in der zehnten Klasse nicht „Das Werk der Artamanows“ Gorkis lesen wollten, obgleich wir diesen Roman durchnahmen. Uns schien dieser allgemein harmlose, wenngleich auch langweilige Roman viel zu pornografisch.

Einmal rief W.A. Walja auf und bat sie, den Inhalt des Romans wiederzugeben. Walja hatte ihn nicht gelesen, aber sie sprach ohne Unterbrechung etwa fünfzehn Minuten über Gorki, sein Werk und ähnliches. Grinin schaute sie an und sagte: „Den Roman haben Sie nicht gelesen, aber ich gebe Ihnen dennoch eine Fünf“. Daher konnten wir gegebenenfalls jeden beliebigen Lehrer aus der Hauptstadt durch unsere Worte beeindrucken.

Bei der Deutschprüfung war irgendeine Lehrerin aus der Provinz anwesend. Diese riss nur staunend die Augen auf, als sie hörte, wie wir die auf deutsch gelesene Erzählung ebenso auf deutsch wiedergaben. Sie hätte dies, sicherlich, selbst nicht tun können. Unseren Dreierkandidaten hätte sie eine Fünf gegeben.

Für die Prüfung in Parteigeschichte kamen Kommunisten von der Pädagogischen Universität. Der Nachname Waljas begann ebenso wie meiner mit „P“, so dass wir gemeinsam zum Prüfungstisch gingen, hinter welchem wir zuerst saßen und unsere Prüfungsaufgaben vorbereiten. Walja war als Erste an der Reihe. In Bezug auf ihre Aufgabe wusste sie alles, aber die Gäste aus der Pädagogischen Universität begannen sie mit Fragen zur Tagespolitik zu bombardieren.

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An alles kann ich mich nicht mehr erinnern, aber eine Frage ist mir im Gedächtnis geblieben: „Wie heißt der Anführer der Faschisten des Sudetenlandes?“ Walja kannte die Antwort nicht. Ich wusste aber zu der Zeit in Bezug auf die Tagespolitik alles, was man in der „Prawda“ lesen konnte. Ich flüsterte ihr „Heinlein“ zu. Unsere Vorsagetechnik war bereits gut entwickelt und sie nannte diesen Namen. Ebenso gingen wir auch hinsichtlich analoger Fragen vor. Haben sie nicht bemerkt, dass unter ihrer Nase vorgesagt wurde? Oder wollten sie es nicht bemerken? Sie sagten jedenfalls nichts, und Walja bekam eine Fünf. Meine Aufgabe bezog sich auf den berühmten Parteitag und den Zerfall in Bolschewiken und Menschewiken. Natürlich kannte ich das alles aus der „Kurzen Geschichte“. Mir wurde keine einzige zusätzliche Frage gestellt (vielleicht haben sie ja doch bemerkt, dass ich vorgesagt hatte?), und ich bekam ebenfalls eine Fünf. Aber Sina ließen sie durchfallen.

Auch sie wurde von den Kommunisten der Pädagogischen Universität mit Fragen zur Tagespolitik bombardiert, aber ich stand nicht neben ihr, um ihr vorzusagen. Sie wussten natürlich, dass ihr Vater und Bruder verhaftet wurden. Sina erhielt in Parteigeschichte eine mDrei und verlor dadurch ihren Einserdurchschnitt. In allen anderen Fächern hatte sie eine Eins. Mit einem Einserdurchschnitt schlossen Katja, Walja, Nina (die Tochter der Pfarrers) und ich ab. So veränderte sich das Zentrum der Verfolgungen: Die Kinder „Ehemaliger“ konnten mit einem Einserdurchschnitt die Schule beenden und sich ohne Aufnahmeprüfung an der Universität einschreiben.

Nina schrieb sich in die Leningrader Universität, in die Fakultät für Chemie, ein. Und die Kinder frisch Verhafteter betraten ihren eigenen Pfad voller Hindernisse. Sina wollte sich, natürlich, in die Fakultät für Mathematik und Mechanik in Leningrad einschreiben lassen. Sie war eine fähige Mathematikerin. Zur Aufnahmeprüfung wurde sie zugelassen. Alle drei mathematischen Fächer – Algebra, Geometrie, Trigonometrie – bestand sie mit Eins, die übrigen mit einer Zwei. Ihr wurde automatisch eine Gesamtnote von 2,1 gegeben, ungeachtet der Tatsache, dass sie in den Fächern der Fakultät, in die sich einschreiben lassen wollte, eine Eins hatte.

Ihr wurde gesagt, dass sie aufgenommen würde, jedoch ohne Wohnheimplatz, aber ohne Wohnheim konnte sie in Leningrad nicht studieren. Sina ging nach Gorki, wo es ebenfalls eine Universität gab, aber sie musste zuerst einen Arbeitsstelle annehmen, da es ihre alte Mutter und ihrer Schwägerin mit den zwei kleinen Kindern viel zu schwer hatten und sie diese unterstützen musste.

Lida ging nach Kasan und schrieb sich erst dort an der Universität ein. Später gelang es ihr irgendwie, nach Leningrad zu wechseln.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich studieren sollte. Obgleich ich mich für Mathematik und Astronomie interessierte, war ich nicht davon überzeugt, dass das mein Weg sein würde. Mein Vater war bestrebt, bei mir Interesse für seine Fächer zu wecken. Er hatte zu Hause sogar ein kleines Linsenfernrohr und schon als kleines Kind habe ich durch dieses die Oberfläche des Mondes, die Jupitermonde, die Ringe des Saturns und sogar die Flecken auf der Sonne betrachtet. Mein Vater besaß ein spezielles Sonnenblendglas für die Sonne.

Wenn mein Vater mit mir auch nicht tiefgehender über Religion gesprochen hatte, so hat er mich vor einem substanzlosen Materialismus bewahrt. Für ihn lag es als Mathematiker auf der Hand, dass wenn man vier-, fünf-, …, n-dimensionale Räume berechnen kann, diese auch existieren müssen. Die Welt wird nicht von den drei Dimensionen begrenzt, die im weltlichen Leben für uns fassbar sind. Er hat mehrmals zu mir gesagt: „Stelle Dir ein zweidimensionales Wesen vor, flach wie eine Hand, für das nur zwei Dimensionen greifbar sind.

Gelangt nun aus einer dritten Dimension in diese zweidimensionale Welt ein anderes Wesen, vollkommen unerwartet und wie aus dem Nichts für das flache Wesen, und verschwindet danach wieder ins Nichts, weil dieses flache Wesen die dritte Dimension nicht wahrnehmen kann, wird es von einem Wunder oder einer Halluzination sprechen, oder möglicherweise nicht glauben, dass dies überhaupt geschehen ist. Aber derweil war diese Erscheinung des dreidimensionalen Wesens vollkommen natürlich. Genauso kann auch ein Wesen aus der vierten, fünften oder einer ganz anderen Dimension, dass unerwartet erscheint und wieder verschwindet, uns unnatürlich oder unlogisch erscheinen.

Indessen existieren all diese Welten, nur können wir diese nicht wahrnehmen und nur in Ausnahmefällen diese berühren“. Ich wuchs in dem absoluten Bewusstsein auf, dass andere Welten existierten. Später sollte mir dies natürlich sehr die Perzeption des Christentums erleichtern. Aber noch war diese klare, beinahe physische Wahrnehmung anderer Welten in meinem Bewusstsein nicht mit dem Christentum verknüpft.

Hätte ich meinen innerem Drang freien Lauf geben können, hätte ich möglicherweise bereits zu dieser Zeit begonnen, Philosophie und Geschichte zu studierten. Aber wie sah die Philosophie aus, die man in der UdSSR zu dieser Zeit hätte studieren können? Es existierten nicht einmal philosophische Fakultäten, diese wurden erst später gegründet. Und Geschichte? Diese wurde in einer schrecklich verzerrten Art und Weise dargestellt. Ich habe von meinem Vater gelernt, und auch für mich stand unweigerlich fest, dass man in seinem Fach die Studenten nicht belügen dürfe.

Das konnte ich nicht tun. Ich erstickte auch ohne dies in einer schweren, klebrigen Masse aus Lügen, die uns umgab. Und ich war nicht allein. Ich erinnere mich, wie Walja einmal ausrief: „Ich würde alles ertragen, die Entsagungen, die Defizite, wenn sie nur die Wahrheit sagen würden, aber sie lügen und lügen!“ Und in welchem Fach konnte man den Lügen entkommen? Lediglich in der reinen Mathematik. Selbst die Astronomen wurden zu dieser Zeit genötigt, zu belegen, dass die Astronomie die Nichtexistenz Gottes bewiesen habe. Die Physiker sollten eine lange Zeit die Relativitätstheorie leugnen, obgleich man sie 1936 zuließ, man verbot lediglich, aus ihr philosophische Schlüsse zu ziehen. Für mich lag auf der Hand: ich sollte wenigstens teilweise vor der alles beeinflussenden und quälenden Lüge in der Mathematik Zuflucht suchen. Ich meldete mich an der Fakultät für Mathematik und Mechanik der Leningrader Universität an und wurde als Einserabsolventin, natürlich, angenommen. Katja meldete sich an der Fakultät für Geografie an, Walja an der für Slawistik. Da beide ebenfalls Einserabsolventinnen waren, wurden sie sofort angenommen.

Auf unserer Schulabschlussfeier hätte von den Absolventen genaugenommen ich als Klassensprecherin eine Rede halten sollen. Aber ich hatte beschlossen, dass Walja eine noch bessere Rednerin als ich war. Die Rede wurde Walja anvertraut, aber wir haben zusammen den Text ihrer Rede ausgearbeitet. Ich musste wegen des Wortlauts nicht wirklich Überzeugungsarbeit leisten, um das Versprechens, das ich mir auf der Abschlussfeier der vorangegangenen 10. Klasse gegeben hatte, halten zu können. Walja kam noch nicht einmal in den Sinn, der Partei oder der Regierung auf irgendeine Art und Weise zu danken, woraus Sonjas Rede aus dem Vorjahr in erster Linie bestanden hatte. Wir haben lediglich besprochen, welche Lehrer wir besonders erwähnen und was wir genau über diese sagen würden.

Uns beiden war auch ohne Worte klar, dass wir lediglich der Schule, dem Schulleiter und den Lehrern danken, und niemandem sonst. Für die Schule hatten wir uns noch etwas überlegt: wir beschlossen, unseren Klassenlehrern, unserem langjährigen Klassenlehrer, Wassilij Alexandrowitsch, und unserer Klassenlehrerin in der 10. Klasse jeweils einen Blumenstrauß zu überreichen, wofür wir in der Klasse Geld gesammelt hatten.

Die Feier verlief gut. Ich ging früher auf die Bühne, um im richtigen Moment von Waljas Rede die früher hinterm Vorhang versteckten Blumensträuße hervorzuziehen, und konnte mit einem inneren Lächeln verfolgen, wie die von uns besonders erwähnten Lehrer erröteten. Für sie war das neu. Die Klassenlehrer waren begeistert.

Ich erinnere mich jetzt nicht mehr daran, wer genau, aber irgendjemand setzte bereits nach der Abschlussfeier für uns eine Exkursion nach Leningrad durch. Einmal war unsere Klasse bereits nach Leningrad gefahren. Damals hatte allen, die dort noch nicht gewesen waren, die Stadt sehr gefallen. Mir war sie bereits bekannt, aber ich war froh, einmal mehr in der Stadt Peter des Großen zu sein. Natürlich blieb sie für mich die Stadt Peters, hier werde ich diese mit ihrem damaligen offiziellen Namen nennen, zumal wir sie merkwürdigerweise auch unter uns so nannten, obgleich ihre Straßen in unseren Erzählungen die alten Bezeichnungen trugen. Niemand sagte: „Gehen wir zum Prospekt des 25. Oktobers“, alle sagten: „Gehen wir zum Newski“. Ich erinnere mich daran, wie wir damals die Peter-und-PaulFestung besichtigt hatten und der Reiseführer am Grab der Zaren die Namen nannte und hinzufügte: „Dann und dann verreckt“. Mir hat sich innerlich der Magen umgedreht.

Diesmal sollte Ekaterina Petrowna uns begleiten. Aber sie kam am Bahnhof an und sagte, bei ihr sei etwas geschehen, das es ihr unmöglich mache, uns zu begleiten. Zur Leiterin der Exkursion wurde ich. Wir hatten kein hartes Programm geplant, aber es gelang mir glücklicherweise eine Übernachtungsmöglichkeit und kostenlose Operettenkarten zu bekommen. So dass ich meine Verpflichtung erfüllte.

Im Sommer wollten mich meine Eltern mit einer Fahrt auf die Krim belohnen. Das war eine herrliche Reise. Zuerst fuhren wir nach Smolensk zu Verwandten und von dort mit dem Dampfer über den Dnepr nach Kiew. In Kiew wollten wir länger bleiben, fanden aber keinen Platz zum Übernachten. Die Hotels waren uns Sowjetbürgern verwehrt, zu diesen hatten lediglich Parteifunktionäre oder Ausländer Zugang, und ein Privatzimmer konnten wir nicht finden.

Wir verbrachten einige Nächte im „Haus der Bauern“, nachdem wir unsere Sachen bei der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof aufgegeben hatten, da man sie in den Aufenthaltsräumen nirgendwo einschließen konnte. Kiew ist sehr schön, aber wir konnten die Stadt lediglich flüchtig besichtigen. Auf der Krim, in Sewastopol und später in Alupka, fanden wir einen Platz zum Übernachten in Privathäusern. Zimmer zu vermieten, war natürlich verboten, aber viele taten es dennoch.
Auf Sewastopol schaute ich mit anderen Augen als das erste Mal an, als ich noch ein kleines Kind war. Diesmal ergriff mich der Heldentum während der Verteidigung der Krim.

Wir betrachteten das beeindruckende Gemälde von Rubo „Die Verteidigung der Stadt Sewastopol“. Mit einem speziellen Gefühl stand ich auf dem Malachow-Hügel vor dem Denkmal des Admirals Kornilow und war zutiefst entrüstet, dass vom Sockel des Denkmals des Admirals Nachimow die für mich bereits damals ekelhafte Gestalt des glatzköpfigen Lenins emporragte.

Später wurde das Denkmal Nachimows wieder aufgestellt, es wurde glücklicherweise nicht zerstört. Aber damals war auf dem Sockel, an einem Ort, an dem absolut alles von der Verteidigung Sewastopols zeugte, das Götzenbild der Revolution errichtet worden. Auf dieser Reise erwachte in mir ein ausgeprägtes Gefühl für das ehemals stolze und blühende Russland sowie Verbitterung angesichts seiner Entehrung. In Alupka jedoch konnten wir uns wunderbar erholen.

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(Fortsetzung folgt …)