Vera Aleksandrovna Pirozhkova >> Biografien und Memoiren

Vera Pirozhkova und ihr Buch "Meine drei Leben. Autobiografische Skizzen"

Vera Aleksandrovna Pirozhkova, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität München, wurde 1921 in Pskov geboren. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse schrieb sie sich 1938 an der Mathematisch-Mechanischen Fakultät der Universität Leningrad ein. Sie flüchtete aus dem besetzten Pskov in den Westen und schrieb sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an der philosophischen Fakultät der Universität München ein. Ihre Dissertation über Herzen verfasste sie unter der Betreuung F. Stepuns.

Sie lehrte an der Marburger Universität, arbeitete an der Herausgabe einer philosophischen Enzyklopädie in Freiburg. 1970 verteidigte sie erfolgreich ihre Habilitationsschrift (vergleichbar mit der Doktorarbeit in Russland) im Fach Geschichtsphilosophie unter dem Titel „Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte“. Sie spezialisierte sich auf Politikwissenschaften und hielt bis zu ihrer Pensionierung 1986 Vorlesungen an der Universität München.

Von 1976 bis 1998 gab sie die Zeitschrift „Golos zarubezhya“ heraus, deren letzten Ausgaben in Petersburg publiziert wurden.

Im Herbst 1993 gab sie eine kurze Vorlesungsreihe an der Universität Moskau und hielt Vorträge an anderen Hochschulen Moskaus. Von 1994 bis 1995 hielt sie zudem eine kurze Vorlesungsreihe an der Staatlichen Universität Sankt-Petersburg.

Ab 1995 lebte sie in St. Petersburg, ohne gänzlich mit München und ihrer alma mater, der Universität München zu brechen.

V. A. Pirozhkova besitzte in der Tat drei Leben. Das erste begann direkt nach der Revolution und endete mit dem Zweiten Weltrieg. Das zweite kennzeichnen 50 Lebensjahre in Westdeutschland, innerhalb derer sie die Universität München abschloss, Professorin für Politikwissenschaften und Herausgeberin der Zeitschrift „Golos Zarubezhya“ wurde. Das dritte prägte die Rückkehr nach Russland, in ihr Heimatstadt St. Petersburg. Das Schicksal der Autorin dieses Buches ist ein Spiegel des 20. Jahrhunderts, das der Menschheit sowohl ihre Ohnmacht wie auch ihre Lebenskraft aufzeigt.

AUS DEM BUCH                                                         

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           Erstes Buch

           Erster Teil

                    Die Familie

                    Vater

Neben Pskow und Petersburg, von denen noch die Rede sein wird, ist Smolensk mit meinen Kindheitserinnerungen verwoben, insbesondere seine wunderschöne Kathedrale. Wenn ich im Traum nach Russland gereist bin, ging meine Reise gewöhnlich in mein geliebtes Petersburg. Aber manchmal auch nach Smolensk, zur Tante, einer von insgesamt vier.

Die Familie, aus der mein Vater stammte, war groß: vier Brüder und vier Schwestern. Mein Großvater war ein kleiner Angestellter. Alle vier Brüder haben die Petersburger Universität in Mathematik abgeschlossen und eine der Schwestern schloss die höheren Frauenkurse ab, ebenfalls in der Fachrichtung Mathematik.

Geografisch näher an Smolensk, wo die Familie lebte, lag Moskau. Weshalb der ältere Bruder, Michail Wasiljewitsch, der 12 Jahre älter als mein Vater war, nach Petersburg ging, weiß ich nicht. Ihm folgte seine zwei Jahre jüngere Schwester Maria Wasiljewna.

Das Studium zu finanzieren fiel ihnen nicht leicht, aber es war möglich. Beide verdienten sich durch Privatunterricht etwas dazu. Die jüngeren Brüder folgten ihnen der Tradition wegen und weil sie mit der Unterstützung ihres älteren Bruders rechnen konnten. Mein Vater war der zweite Sohn. Zwischen seinem älteren Bruder und ihm selbst wurden noch vier Mädchen geboren.

Michail Wasiljewitsch Pirozhkov betrat mit seiner eigenen Verlegertätigkeit den russischen Literaturboden. Der Verlag, der von ihm gegründet wurde, war nicht groß, aber überaus anspruchsvoll: er verlegte lediglich höhere Literatur, besaß die Lizenz für die erste vollständige Gesamtausgabe von Mereschkowski und anderen Schriftstellern. Er verlegte auch das Journal „Poljarnaja Svezda“ von P. Struve und S. Frank.

S. Frank erinnert in seiner Biografie über P. Struve daran. Eine derartige Auffassung von der Verlagstätigkeit vermochte nicht, Kapital anzuziehen und der Verlag meines Onkels ging schließlich pleite. Er arbeitete erneut als Mathematiklehrer.


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Daneben übersetzte er aus dem Französischen. Ich kann mich jetzt nicht mehr daran erinnern, in welcher sowjetischen Ausgabe ich die Verspottung des russischen Intellektuellen gelesen habe, in dessen Bücherregal ganz gewiss ein „Bändchen Bertrans in der Übersetzung Pirozhkovs“ zu finden ist, aber mein Onkel hat in der Tat als Erster Bertran in die russische Sprache übertragen.

Die Pleite seines Verlages rettete ihm sein Leben während der Revolution. In den 30-ger Jahren hätten sie sich ihn geschnappt, aber er starb 1929 mit 62 Jahren. Mein Vater hat viel von ihm erzählt, aber ich kann mich nicht an ihn erinnern, obgleich ich ihn sicherlich als kleines Kind gesehen habe.

Die Mathematik wurde zu einer Familientradition. Mein Vater war seiner Berufung nach Mathematiker. Er lebte während seiner Studienzeit in der Wohnung des älteren Bruders, unterstütze ihn bei seiner verlegerischen Tätigkeit und beendete, unter anderem, glanzvoll die Universität. Aber der zweite Bruder, Aleksej Wasiljewitsch, ein zart besaiteter und ergebener Mensch, wurde zum Opfer der familiären Tradition. Ihn zog es zu Kunst und Literatur. Er war ein ausgezeichneter Amateur-Pianist und hätte ohne Zweifel im Konservatorium auftreten können. Und wenn zur Universität, dann die slavistische Fakultät.

Aber da er sich entschlossen hatte, nicht die Tradition zu brechen, die nicht vom Vater, sondern vom Bruder gonnen worden war, schrieb er sich in die mathematischen Fakultät ein und kam, beschäftigt mit der verlegerischen Arbeit des Bruders, in seinen Studien überhaupt nicht voran. 

Der jüngere Bruder, Wladimir Wasiljewitsch, um einiges resoluter, zog in eben selbiges Petersburg, in eben selbige Wohnung Michail Wasiljewitschs und besuchte eben selbige mathematische Fakultät. Nachdem er sich alles angeschaut und begriffen hatte, dass der ältere Bruder Aleksej viel zu sehr mit verlegerischer Arbeit erdrückte und Mathematik ihm sowieso sehr schwer fiel, nahm er sich einfach eine eigene Wohnung, fuhr nach Hause und sagte zu Aleksej: „Pack‘ Deine Sachen, wir ziehen um“. Jener sammelte demütig seine Sachen zusammen und mit sicherlich nur viel Glück sowie einem enormen Arbeitsaufwand beendete er die Universität.

 

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Zu sowjetischen Zeiten unterrichtete Aleksej Wasiljewitsch Mathematik an irgendeinem Technikum. Beide Brüder und die ältere Schwester kehrten nach Smolensk zurück. Die übrigen Schwestern sind gar nicht erst weggegangen. Zu sowjetischen Zeiten hatten sie winzig kleine Wohnungen in nicht besonders großen Häuschen, die aneinander stießen und deren Außenfenster alle zu ein und demselben Hof gingen. Es entstand ein richtiges „Nest“, das meine Verwandten vor Unannehmlichkeiten mit fremden Nachbarn verschonte. Ungeachtet der Tatsache, dass er den jüngeren Bruder, einen Mathematiker, bei der Hand hatte, schrieb Aleksej Wasiljewitsch regelmäßig lange mathematische Briefe an meinen Vater, da er oft nicht mit den Aufgaben, die er seinen Schülern geben musste, zurechtkam. Mein Vater löste diese geduldig und schickte seinem Bruder Erläuterungen.

In der Familie meines Vaters, im Kreise seiner Brüder und Schwestern, herrschte die typische Atmosphäre russischer Petersburger Intellektueller. Ob sie diese Eigenart von ihrer Familie erbten – meine Großmutter und mein Großvater väterlicherseits sind gestorben, vor ich geboren wurde, oder während ihrer Petersburger Studentenjahre, vermag ich nicht zu sagen. Unbeholfenheit in Bezug auf irdische Dinge, eine hohe Moral, eine beinahe eiserne Humanität, intellektuelle Integrität sowie Zivilcourage schufen nur beschränkt die Voraussetzungen für ein Leben unter sowjetischen Bedingungen. Und dass sie verschont geblieben sind, dann nur dank ihres äußerst Ideologie freien und abstrakten Spezialfaches – der Mathematik; die sowjetischen Propagandisten wussten nicht, wie man die kommunistische und atheistische Propaganda in den Mathematikunterricht einbinden konnte. Und die Fachkräfte aus der Zarenzeit wurden noch benötigt. Man konnte nicht alle hinauswerfen.

Intellektuelle Integrität und Zivilcourage waren äußerst ausgeprägte Wesensarten meines Vaters. Eine Szene aus meiner Kindheit habe ich bis heute vor Augen. Ich war zu der Zeit sechs Jahre alt. Wie es dazu kam, dass ich mich in der Wohnung aufhielt, erinnere ich mich nicht mehr. Aber sehr gut erinnere ich mich an den hochgewachsenen Burschen, der mit Drohungen zu meinem Vater gekommen war. Er war ein Vydvizhenez. Als Vydvizhenzy wurden in den Zwanziger Jahren frühere Partisanen, aktive Kommunisten und Komsomolzen bezeichnet, die von der Führung als Dank für politische Verdienste an verschiedene Bildungseinrichtungen, vor allem an Ingenieursfachhochschulen, geschickt wurden. Auf diese Weise wollte man ein neues Heer ergebener Fachkräfte hervorbringen.

 

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Einige von diesen waren begabt und in der Lage zu unterrichten. Viele verstanden jedoch mehr von Gewehren, Säbeln oder primitiven propagandistischen Phrasen, während sie außer Stande waren, „die Nase in Bücher zu stecken“. Dennoch fürchteten Pädagogen, die sich mehrheitlich aus der alten Intelligenzia zusammensetzten, diese sehr und verhalfen ihnen oftmals zu befriedigenden Noten, obgleich die Vydvizhenzy von nichts eine Ahnung hatten. Untereinander erzählten sich die Pädagogen die kuriosesten Geschichten über Prüfungsantworten der Vydvizhen.

Ein Kollege meines Vaters, ein Lehrer der russischen Sprache und Literatur, zeigte einmal einen Aufsatz eines solchen Vydvizhenez zum Thema „Historische Persönlichkeiten in der Poema Pushkins „Poltawa“. Dieser begann folgendermaßen: „In der Poema Pushkins kommen zwei historische Persönlichkeiten vor – die Persönlichkeit des Peters und die Persönlichkeit des Mazeppa. Es gab noch eine weitere historische Persönlichkeit – die Persönlichkeit des Königs Karl. Sie lebte in Schweden“. Der Verfasser behauptete, dass „Peter anordnete, Anathema aus Moskau nach Poltawa zu bringen und diese dort statt Mazeppas ertönte“ und beendete sein Aufsatz „So wurde zu Ehren Peters ein Denkmal aufgestellt, während Mazeppa begraben wurde.“ Ich vermag leider nicht zu sagen, welche Note der Student für diesen Aufsatz bekommen hat.

Mein Vater weigerte sich beharrlich, befriedigende Mathematiknoten zu geben, wenn nicht wenigstens ein Minimum an Kenntnissen vorhanden war, unabhängig davon, welchen Studenten er vor sich hatte, Vydvizhenez oder nicht.

Und jetzt kam einer dieser Vydvizhenez, der von meinem Vater systematisch unbefriedigende Noten bekam, in unsere Wohnung. Vater lud ihn ein sich zu setzen und fragte, weshalb er gekommen sei. Der Bursche gab folgende Erklärung: „Wenn Sie mir keine befriedigende Note geben, werde ich melden, dass Sie der Kommandeur eines Panzerzugs der Weißen während des Bürgerkriegs gewesen sind“. Die Lügenmär des Jungen war so plump, wie er selbst. Mein Vater war ein zutiefst unmilitärischer Mensch und hat nie irgendeine Waffe in der Hand gehalten. Als er zum ersten Mal bei der Einberufungsstelle erschien, zog er einen Nichteinberufungsbescheid hervor, und im Ersten Weltkrieg wurde er, da er Lehrer war, nicht zum Kriegsdienst einberufen. In Russland haben sich die schulischen Rahmenbedingungen so turbulent entwickelt, dass es an Lehrern aller Schulformen und Gymnasialstufen fehlte und diese sogar während des Krieges nicht eingezogen wurden. 

 

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Und wenngleich die Sympathien meines Vaters auf der Seite der Weißen waren, hat er selbst nicht zur Waffe gegriffen. Diese Drohung allerdings war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, auch wenn die furchtbaren 30-er Jahre noch nicht ihren Lauf genommen hatten. Außerdem wurde mein Vater 1924 verhaftet, darüber werde ich jedoch später berichten.  Verhaftet wurde er ausgerechnet aufgrund einer verleumderischen Denunziation.

Mein Vater hörte sich die Drohworte bis zu ihrem Ende an, stand auf, öffnete die Tür und sagte lediglich ein Wort: „Raus!“. Ich erinnere mich, wie dieser kräftige Kerl zusammenzuckte, regelrecht winzig wurde und wie ein getretener Hund, den „Schwanz zwischen den Beinen“, aus dem Raum hinausglitt.

Meinem Vater ist nichts passiert. Ich konnte später mehr als einmal beobachten, dass das Fehlen von Angst in totalitären Regimen einen Menschen zu retten vermochte. Die Repräsentanten dieser Regime bzw. ihre Handlanger denken folgendermaßen: Er gibt nicht klein bei, das heißt, er hat irgendwo oben „Rückendeckung“. Und sie räumen das Feld, um „sich nicht einlassen“ zu müssen. Aber derjenige, der ihn kennt…

In der Kindheit war mein Lieblingsmärchen eine kurze Erzählung über einen „verrückten Hasen“. Ein Hase rief eine Hasensammlung zusammen, kletterte auf einen Baumstumpf und hielt eine Rede darüber, dass es nicht nötig sei, die Wölfe zu fürchten, es sei an der Zeit, den Angsthasen aufzugeben. Diese Rede hörte ein Wolf und beschloss: „Auch diesen Redner werde ich fressen!“ Hingerissen von seiner Rede bemerkte der Hase den Wolf nicht und war verblüfft, als seine Zuhörer plötzlich auseinanderstoben. Er blickte sich um, sah den Wolf vor sich und … sprang den Wolf an! Was sollte er auch sonst tun? Und der Wolf … lief davon. Zu seiner Rechtfertigung sagte der Wolf sich später: „Wenn es auch wenig Hasen imWald gibt, aber dieser ist verrückt“. So kommen „verrückte Hasen“ manchmal auch davon. Über die Standhaftigkeit meines Vaters werde ich noch berichten. Sein Beispiel hat meinen Charakter mehr geschliffen, als dies lange Erörterungen hätten können.

 

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                    Mutter

Meine Mutter war die Tochter eines Eisenbahnangestellten und verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Polen, wo ihr Vater erst als Aushilfskraft und später als Vorsteher verschiedener Bahnstationen arbeitete. Die Voruteilslosigkeit der Familie ist daran ablesbar, dass zum Freundeskreis der Familie sowohl Polen, Juden, Ukrainer gehörten, und wenn sich in der Nähe keine orthodoxe Kirche befand, gingen sie in den griechisch-katholischen Gottesdienst.

Als die älteren Kinder größer wurden, bat mein Großvater um eine Versetzung in eine Stadt, in der sich ein Gymnasium befand. Er wurde nach Dwinsk versetzt. Meine Mutter war das älteste Kind in der Familie; für sie und ihren Bruder, der zwei Jahre jünger war als sie, stellte der Vater eine Gouvernante ein, die die beiden auf die Aufnahmeprüfung für die gymnasiale Oberprima vorbereitete. Meine Mutter bestand die Prüfungen und wurde sofort für die 5. Klasse des Dwinsker Frauengymnasiums angenommen. Ein Jahr später wurde mein Großvater nach Pskow versetzt, das damals einen bedeutenden Verkehrsknotenpunkt darstellte. Mama beendete das Pskower Gymnasium und bereits im letzten Schuljahr, in der achten Klasse verlobte sie sich. Sie heiratete einen jungen Petersburger Beamten der Eisenbahnverwaltungsbehörde, der wegen einer Inspektion nach Pskow gekommen war und sich in meine Mutter verliebt hatte.

Mit diesem ging sie nach Petersburg. Als der russisch-japanische Krieg begann, wurde ihr Mann, ein Reserveoffizier, zur Armee einberufen und fiel während des Krieges. Meine Mutter wurde mit 24 Jahren und fünf Kindern Witwe. Für ihren Mann erhielt sie nur eine kleine Witwenrente, da dieser noch sehr jung war, als er fiel, so dass meine Mutter mit den Kindern zurück nach Pskow ging, wo das Leben günstiger war. Sie wurden von den Eltern ihres verstorbenen Mannes, Adligen, die ein kleines Vermögen hatten, unterstützt.

Gleichwohl gestaltete sich der Alltag bescheiden – zumindest nach deren Auffassung! Meine Mutter hatte nicht nur eine Dienerin, sondern auch eine Gouvernante für die Kinder. Meine Mutter, die ihr 81. Lebensjahr erlebten durfte, befürchtete immer aus irgendeinem Grund früh zu sterben und die Kinder als Vollwaisen zurückzulassen. Deshalb bediente sie sich der Privilegien, die den Kindern eines Offiziers, der im Krieg gefallen war, zustanden. Beide Töchter brachte sie kostenfrei am Petersburger Nikolajewski Institut unter. Dieses Institut bildete nicht nur aus, sondern kümmerte sich auch um junge Mädchen nach deren Abschluss, sollten diese Vollwaisen geworden sein. Diejenigen, die verlobt waren, bekamen eine Mitgift, die übrigen wurden als Gouvernanten oder Hauslehrerinnen untergebracht. Der ältesten meiner Schwestern hat die Trennung von der Familie und die Erziehung in einem Internat nichts ausgemacht, aber die jüngere Tochter wurde mit 6 Jahren in ein Internat gegeben, obgleich sie zur Melancholie neigte und außergewöhnlich stark an der Familie hing.

 

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Bei ihr hat diese brachiale, frühe Trennung von der Familie tiefe Spuren hinterlassen. Mein Vater, der seine Stiefsöhne und Stieftöchter besonders liebte, sagte oftmals, dass er dies nie zugelassen hätte, wenn er bereits der Ehemann meiner Mutter gewesen wäre. Aber ich würde meiner Muttter nie und nimmer Vorwürfe machen. Sie handelte nicht aus Gleichgültigkeit so, sondern aus Sorge um die Kinder, weil sie diese im Falle des eigenen Todes versorgt wissen wollte. 

Den drittjüngsten der drei Söhnen gab sie, indem sie analoge Privilegien ausnutzte, in eine Kadettenschule. Aber diese war in Pskow, so dass der Junge jeden Sonntag mit der Familie verbringen konnte. Nur der älteste Sohn, Aleksej, wohnte zu Hause und ging zur Pskower Realschule, an der mein Vater Mathematik unterrichtete. Der jüngere Sohn, Georgij, starb an Scharlach, als er sechs Jahre alt war. Dessen Tod erschütterte meine Mutter dermaßen stark, dass sie so oft sämtliche Umständen, die diesen begleiteten, beschrieb und mir schien, als hätte ich persönlich diese Tragödie eines Kindstots miterlebt.

Als meine Mutter mit dem fünften Kind schwanger wurde, erschrak sie zunächst. Verständlicherweise war sie erschöpft, hatte einfach Angst vor einer erneuten Schwangerschaft und wollte sogar dieses Kind nicht. Aber danach liebte sie diesen ruhigen und sehr zärtlichen Jungen mehr als alle anderen Kinder. Sein plötzlicher Tod genau am Weihnachtsabend schlug auf sie ein wie ein unerträglich schrecklicher Schlag. Sie gab sich dafür die Schuld, da sie dieses Kind irgendwann mal nicht wollte, und betonte immer wieder, dass sie selbst nicht mehr leben wolle.Dies alles geschah zwei Jahre, bevor meine Mutter meinen Vater kennenlernte.

Mein Vater schloss 1903 die Universität in Petersburg ab. Seine erste Anstellung führte ihn ans Gymnasium in Kischinew. Als er dort ankam, ging er durch die Straßen: staubig, heiß. Bessarabien gefiel ihm nicht. Er setzte sich in den Zug, kehrte nach Petersburg zurück, ging ins Bildungsministerium und sagte, dass ihm Kischinew nicht gefalle. Damals waren die Zeiten noch derart liberal, dass sie den vierundzwanzigjährigen, gerade erst angehenden Lehrer nicht einmal rügten, sondern ihm eine Stelle am Frauengymnasium in Nowgorod anboten. (Stellung einfach)

 

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Am Nowgoroder Gymnasium war das Klima nicht besonders angenehm. Nicht alle Lehrer verschmähten die irdischen Güter im ausreichenden Maße, und die Töchter reicher Kaufmänner bekamen nicht selten Noten, die nicht ihrem Wissensstand entsprachen. Natürlich hat sich mein Vater sofort dagegen aufgelehnt. Ihm stand ein ebenso neuer wie junger Literaturlehrer zur Seite. Ihnen gelang es, das Klima an diesem Gymnasiums bedeutend zu verbessern, offenbar war mein Vater zu der Zeit noch viel zu jung, unbeherrscht, obgleich ihm zu jener Zeit nicht ein Hauch dessen drohte, was zu sowjetischen Zeiten für Standhaftigkeit zu erwarten war.

Jedenfalls bat er nach zwei Jahren erneut um eine Versetzung, und er wurde abermals ohne überflüssige Diskussionen an die Pskower Realschule versetzt. In Pskow gefiel es ihm, und er verbesserte sukzessiv das Niveaus des Mathematikunterrichts der Schule, dass in Petersburg, in den Fakultäten, in denen die Bewerber eine Aufnahmeprüfung absolvieren mussten, die Prüfer den Prüflingen sagten: „Von der Realschule in Pskow? In Mathematik bestanden, die Prüfung wird reine Formsache“.

Meinem Vater sollte beschieden sein, sich mit Literaturlehrern anzufreunden. Auch in Pskow war er einem Slavisten aus dem Kollegium besonders nahe, der ihn mit meiner Mutter bekannt machte.

Meine Eltern ließen sich 1912 trauen. Sie waren gleichen Jahrgangs, und mein Vater nahm vier Kinder an: Aleksej, Tatjana, Ilja und Elena. Diese begannen sofort, ihn Papa zu nennen (an ihren leiblichen Vater konnten sie sich auch nicht erinnern, lediglich schemenhaft die älteren Kinder, aber sie waren eben sehr jung, als er in den Krieg zog und fiel), liebten meinen Vater, und er sah sie immer als die seinen an.

Die Hochzeitsreise verbrachten meine Eltern auf der Wolga auf einem Dampfschiff. Und im darauf folgenden Jahr konnte mein Vater meine Mutter auf die Krim entführen. Er liebte es sehr, zu verreisen. 

 

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Vor der Heirat konnte er Deutschland, die Schweiz und Frankreich bereisen. Er erzählte oft, wie ihn in Paris ein Pfarrer fragte: „Was ist schneller, ein Pferd oder ein Bär?“ Mein Vater antwortete: „Kann ich nicht sagen. Ich bin kein Jäger und für solche Fragen habe ich mich nie interessiert“. Dem Pfarrer weiteten sich die Augen: „Ist das so? Aber bei euch in Russland spannt man doch Bären an die Wagen und fährt auf diesen!“ Dies ist kein „Seemannsgarn“.

Mein Vater hatte tatsächlich ein solches Gespräch. Darüber hinaus machte mein Vater eine außergewöhnliche Reise in das Altaigebirge, wo er zusammen mit einem Bergführer den Gebirgssattel erklomm und den Baikal erblickte.

Er hat oft bedauert, dass er das Angebot, während einer Ausbildungsfahrt für Marinekadetten, die über viele Haltestationen von Petersburg um das Kap der Guten Hoffnung bis nach Japan gehen sollte, Mathematik zu unterrichten, ausgeschlagen hatte. Aber um dieses annehmen zu können, hätte er zum Ende des einen Schuljahres und zu Beginn des folgenden um einen Ersatz für sich bitten müssen. Natürlich hätte man das arrangieren können, und es sollte nochmals erwähnt werden, dass diese Zeiten liberal waren. Aber mein Vater hatte gerade erst begonnen, in Pskow zu unterrichten und empfand es als unangenehm, sofort um eine Gefälligkeit zu bitten, zumal er dachte, dass sich eine ähnliche Gelegenheit nicht nur einmal bieten würde. Aber später sollten sich überhaupt keine Gelegenheiten mehr bieten. Eine Zeit lang unterrichtete mein Vater nebenberuflich in der Kadettenschule, so dass beide Stiefsöhne zu seinen Schülern gehörten: der ältere in der Realschule und der zweite in der Kadettenschule.

Der Krieg brachte keine besonderen Auswirkungen auf die Familie. Wie bereits erwähnt, wurde mein Vater nicht in die Armee eingezogen, die Söhne waren minderjährig und durften noch nicht eingezogen werden. Nahrungsmittelengpässe gab es in Pskow nicht. Die alter tümliche Kleinstadt mit 40 Tausend Einwohnern war von Dörfern umgeben und versank in einer Vielzahl von Gärten. 

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Niemals in meinem Leben und nirgendwo sonst erblickte ich einen solchen Reichtum an Äpfeln, wie in Pskow während meiner Kindheit, bevor die Gärten zerstört wurden. Diese starben vor Deinen Augen, aber in den Jahren meiner Kindheit existierten sie noch. Von chinesischen Äpfeln bis Paradiesäpfeln (erstere länglich, letztere rund), von winzig kleinen Äpfelchen, aus denen Konfitüre gemacht wurde, bis hin zu riesigen Aportäpfeln und den etwas weniger großen, sehr verbreiteten Antonowkaäpfeln, von den frühreifen, gelben und säuerlichen, weißen Klaräpfeln bis zu rotbäckigen und süßen Himbeeräpfeln … welche Äpfel gab es nicht! Auch Beerenfrüchte gab es reichlich: Walderdbeeren, Gartenerdbeeren, Himbeeren, schwarze Johannisbeeren, auch Kirschen wuchsen, nur für Kirschbäume war es viel zu kalt, wie auch für gute Birnen; Birnen gab es, aber sie waren hart und schmeckten nicht. Vor der Revolution gab es, natürlich, eine Vielzahl importierter Obstsorten.

Das Unheil kam mit der Revolution. Der Kollege meines Vaters, der Literaturlehrer, von dem ich bereits berichtete, flüchtete rechtzeitig. Er sagte zu meinen Eltern: „Ihr wisst nicht, was uns bevorsteht“. Mein Vater hat sich oft an seine Worte erinnert. Meine Eltern haben leichtgläubig auf den Sieg der Weißen Armee gehofft und arrangierten nichts für eine Flucht im Falle eines schrecklichen Ausgangs. Mein Bruder, der Kadett, Iljuscha, war 15 Jahre, als der Bürgerkrieg begann. Meine Eltern wollten ihn wegen seines jungen Alters nicht zur Armee lassen, er ging jedoch heimlich. Die Ehre eines zukünftigen Offiziers verbat es ihm, dem Kampf fernzubleiben. Er schloss sich der Armee Judenitschs an. Wie viele dieser Jungen haben selbstlos ihr Leben im Kampf gegen den sich über Russland zusammenziehenden Schrecken gegeben, während gestandene Offiziere sich zu Hause zurücklehnten oder das für den Widerstand gesammelte Geld verzechten. Der Zerfall war weitreichend. Aber die Weiße Armee tat, was sie konnte, und es ist gut, dass unter der Jugend im Land jetzt ein anderes, positives Bild von ihr heranwächst.

 

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Meine Mutter hat mir oft davon erzählt, wie ihnen das Herz zusammengezogen war, als in Pskow die lang gezogene Sirene ertönte, nachdem Judenitsch versprochen hatte, die Pskower im Falle des Abmarsches seiner Armee zu informieren. Meine Eltern hofften bis zum
letzten Augenblick, dass sich die Weiße Armee behaupten würde…

Sie vermochten selber nicht zu erklären, weshalb sie nicht flohen. Sie waren einfach verunsichert. Insgesamt 15 Tausend der 40 Tausend der damaligen Bevölkerung flohen. Meine Eltern hatten jedoch nichts arrangiert und bei alldem noch drei minderjährige Kinder. Also blieben sie, und mein Vater beschloss, die sich zurückziehende Armee Judenitschs abzusuchen, um zu versuchen, Iljuscha ausfindig zu machen: meine Eltern hofften, dass sich vielleicht niemand, gelänge es ihnen, den Jungen in Zivilkleidung verkleidet nach Hause zu bringen, an seine Partizipation in der Weißen Armee erinnern.

Iljuscha wurde von meinem Vater nicht gefunden. Die Armee zog sich unabwendbar zurück. Als diese sich der Grenze näherte, wurde meinem Vater bewusst, dass er vor einer Wahl stand: sollte er allein über die Grenze flüchten – und dann für immer – oder versuchen, zur Familie zurückzukehren. Ob Iljuscha überhaupt noch lebte oder in einem der letzten Gefechte gefallen war, wusste er nicht, und zu Hause bliebe Mama mit drei Kindern zurück. Er beschloss zu bleiben. In Gdow wartete er die Einnahme der Stadt durch die Roten ab. Aber die Rückkehr nach Pskow erwies sich als undenkbar. Überall waren Absperrungen, man ließ nur diejenigen passieren, die einen Passierschein von der neuen Führungsspitze besaßen. Mein Vater beschloss, in die Höhle des Löwen zu gehen und ging zum Kommissar.

 

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Dieser fragte ihn, wozu er nach Pskow müsse. Mein Vater antwortete, dass er dort lebe. „Und wie sind Sie dann nach Gdow geraten?“ – „Ich floh vor der Weißen Armee“, antwortete mein Vater, „habe es mir dann aber anders überlegt und bin geblieben“. Der Kommissar starrte ihn schweigend steinernen Blickes an, dann sagte er: „Haben Sie gut gemacht“. Auch die Roten waren vom massenhaften Exodus der Einwohner von Pskow beeindruckt. „Kommen Sie in ein paar Tagen wieder“. Aber mein Vater umklammerte hartnäckig die Kante des Tisches und sagte: „Ich werde diesen Raum nicht verlassen, bis Sie mir einen Passierschein gegeben haben“. Der Kommissar sah ihn erneut kurz unverwandten Blickes an, nahm darauf schweigend ein Blatt Papier und schrieb ihm einen Passierschein aus.

Mein Vater machte sich zu Fuß auf den Weg, übernachtete bei Bauern und machte sich tiefe Gedanken. Obgleich er von Beginn an die Bolschewiki entschieden ablehnte, wurde auch ihm nur nach und nach bewusst, welch ein Schrecken sich hinter diesen verbarg. Er begriff immer besser, in was für einen Abgrund Russland glitt, und fragte sich, ob er der Familie mit seiner Rückkehr nutzte oder schadete. Zweifel darüber, ob er die Familie nicht der Verfolgung preisgab, sollte man ihn verhafteten, weil er versucht hatte, mit der Weißen Armee zu fliehen, quälten ihn immer mehr. Und dann hatte er während einer seiner nächtlichen Ruhepausen einen Traum: er stand auf einer kleinen grünen Wiese, über ihm die blaue Himmelskuppel. Plötzlich schwebte eine weiße Papierrolle vom Himmel herab, die allmählich begann, sich zu drehen. Auf ihr stand in goldenen Buchstaben: „Geh. Ich segne dich“. Das Fortgehen meines Vaters mit der Weißen Armee sowie seine Rückkehr zur Familie wurden nie wieder erwähnt. Als wäre aus der Ereigniskette ein Glied herausgerissen worden.

Mein Vater wurde 1924 aufgrund einer Verleumdung verhaftet, er solle Sozialrevolutionär gewesen sein. Er gehörte zu keinem Zeitpunkt irgendeiner Partei an, und Sozialrevolutionäre sowie andere Sozialisten wurden keineswegs in irgendeiner Weise seiner Sympathien zuteil,

 

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aber in den Monaten zwischen Februar und Oktober 1917 besuchte er manchmal die öffentlichen Versammlungen verschiedener Parteien, um sich anzuhören, was sie zu sagen hatten. Irgendjemand sah ihn wahrscheinlich auf einer Versammlung der Sozialrevolutionäre. Und damals tauchten Ermittlungsbeamte auf, die die Wahrheit ans Licht bringen wollten. Der Ermittlungsbeamte erkannte, dass sich die Angehörigkeit meines Vaters zur Partei der Sozialrevolutionäre nicht bestätigen konnte. Hierbei war ein Moment besonders heikel. Während der Monate, in denen die Gefahr einer Machtübernahme durch die Bolschewiki immer größer wurde, tauchte irgendeine „Union zur Erlösung Russlands vor den Bolschewiki“ auf, die leider Gottes Russland jedoch nicht erlöste. Aber mein Vater hat sich zu jener Zeit dieser angeschlossen. Bei der Hausdurchsuchung wurden viele Schriftstücke konfisziert, unter anderem ein von ihm vergessenes Flugblatt eben jener Union. Als der Untersuchungsbeamte dieses hervorzog, erstarrte mein Vater. Zu seinem Glück stand dort lediglich „Union zur Erlösung Russlands“, und nicht von wem. „Was ist das für eine Union zur Erlösung Russlands“, runzelte der Ermittlungsbeamte die Stirn. Allerdings hatte er selbst eine Erklärung zur Hand: „Ah, wahrscheinlich vor Kornilow!“ Mein Vater, der jegliche Lüge dermaßen verabscheute, sagte dieses Mal: „Ja“. Er wurde nach einigen Wochen Haft wieder entlassen.

Mein älterer Bruder ging nach Petrograd und schrieb sich am Institut für Infrastrukturingenieure ein. Das Leben dort war beschwerlich und geprägt von Hunger. Mein Vater konnte ihn nicht unterstützen. Um die Familie zu ernähren, gab er nebenbei bis 12 Uhr nachts Privatunterricht in Mathematik und schlief manchmal vor Müdigkeit während der Unterrichtsstunde ein. Für eine Unterrichtsstunde bezahlte man ein halbes Pfundbrot. Kurz vor meiner Geburt fuhr mein Vater nach Petrograd und erfuhr dort etwas Bestürzendes: Iljuscha war nicht auf der Walstatt gefallen…

 

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Er ging ins Baltikum und kämpfte sich irgendwie zu einem bekannten Letten durch. Diese Familie lebte bis zur Revolution in Pskow, die Söhne gingen auf die Realschule, waren Schüler meines Vaters und Freunde meines älteren Bruders, sie kannten auch den jüngeren, da sie oft im Haus meiner Eltern verkehrten. Als die Revolution ausbrach, kehrten sie nach Lettland zurück, wo sie ein Gut sowie ein kleines Vermögen hatten. Sie nahmen Iljuscha auf, ließen ihn aber während des Winters auf dem Gut, während sie selbst nach Riga reisten.

Iljuscha war an Paratyphus erkrankt, und hatte darauf, wie es häufig der Fall war, Dysphorie. An seinem 17. Geburtstag hat er sich erschossen. Vater und Sohn vereinbarten, vorerst nicht meiner Mutter davon zu erzählen, damit der Schock weder sie noch das Kind umbringen würde (Mama erwartete mich zu diesem Zeitpunkt). Mama erzählte, sie habe sofort das bestürzte Gesicht meines Vaters gesehen, so dass sie sich bei ihm erkundigte, was passiert sei, aber er antwortete lediglich, dass Petrograd betrüblich, dreckig und trostlos geworden sei.

1944, während unserer Fluch über Riga in den Westen, kreuzte sich unser Weg mit zwei der drei Brüder aus dieser lettischen Familie. Der Ältere, Werner, ist von den Bolschewiki verhaftet und verschleppt worden. Die Verbliebenen versuchten, uns zu helfen, womit sie konnten, vor allem ihre Ehefrauen, die die tragische Geschichte Iljuschas von ihren Ehemännern erfahren hatten, jedoch selbst dieser nicht teilhaftig gewesen waren. Zu diesem Zeitpunkt waren sie noch minderjährig und kannten ihre zukünftigen Ehemännern noch nicht einmal. Meine Eltern machten ihnen, natürlich, keinen Vorwurf. Wie sollte man auch wissen, wo welche Schuld lag? Und trugen nicht auch meine Eltern eine Mitschuld, da sie nicht vermochten, den Sohn so gläubig zu erziehen, dass ein Selbstmord für ihn ausgeschlossen gewesen wäre?

 

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Was wäre wohl aus Iljuscha geworden, wenn er am Leben geblieben wäre? Zuallererst, natürlich, hätte er sich durchgeboxt. Im Baltikum lebten viele russische Emigranten, mehr oder weniger gut, aber er wäre zurechtgekommen. Was wäre allerdings 1940-41 mit ihm geschehen? Hätte er rechtzeitig vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Lettland flüchten können?

Die Deutschen, die die Baltendeutsche aus dem Baltikum hinausschafften, nahmen oftmals auch Russen mit, ohne einen Nachweis für irgendeine erfundene Großmutter zu fordern. Jedoch blieben auch viele Russen und … kamen um. Die Verhafteten wurden während der schrecklichen Hitze 1941 in Güterwagons durch Pskow gefahren. Noch in Riga erzählte mir eine junge Estnin aus Pskow, ebenfalls ein Flüchtling, wie sie einmal die Gleise überquerte, um Milch zu holen (hinter den Bahnhof standen bereits halbländliche Häuschen, und viele hielten Kühe), als plötzlich aus einem der stehenden Güterwaggons, denen sie zuerst keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, ein Stöhnen zu hören war, und in estnischer Sprache: „Wasser, um Gottes Willen, Wasser“. Sie lief mit der leeren Milchkanne zum Wasserhahn, füllte sie mit Wasser, ging zum Wagon und wollte durch das hohe, blinde Fensterchen Wasser reichen. Aber in diesem Augenblick tauchte ein NKWD-Mitarbeiter neben ihr wie aus dem Boden geschossen auf und knurrte: „Was machen Sie da? Wollen Sie selbst da rein?“ Ihr fiel die Milchkanne aus den Händen. So blieben auch die unglückseligen Menschen ohne einen Tropfen Wasser in der heißen Sonne. Der Massentransport von Verhafteten aus dem Baltikum begann am 14. Juni 1941, weshalb viele, zu deren Glück, nicht vor Beginn des Krieges abtransportiert werden konnten. Aber wäre es Iljuscha gelungen, am Leben zu bleiben, hätte er 25 Jahre später seine Mutter, seinen Stiefvater, den er geliebt hatte und der ihn sehr geliebt hatte, und eine neue Schwester getroffen. Aber hätte er überhaupt überlebt? Es ist sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es bleibt lediglich sein Grab zu besuchen, in welches eben jene bekannten Letten ihn gelegt hatten.

 

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                  Kindheit

Als der Gynäkologe bei meiner Mama die Schwangerschaft feststellte, war sie bereits 42 Jahre alt. Die Zeit war schwierig, geprägt von Hunger, und der Arzt fragte meine Mutter:
„Das Kind abtreiben?“ Meine Mutter antwortete: „Nein!“

Ich war 12 Jahre alt, als dieser in Pskow sehr bekannte Gynäkologe vollkommen unerwartet an einem Schlaganfall verstarb. Er wurde gerade mal 50 Jahre alt. Wir lebten zu der Zeit in der Straße, die zum städtischen Friedhof führte, der Sarg wurde von einer derart großen Menschenmenge begleitet, dass es einer Demonstration gleichkam. Allerorts war zu hören, dass der Verstorbene „den Frauen geholfen habe“. In meiner ganzen kindlichen Naivität habe ich das so verstanden, dass er bei schwierigen Geburten half, Krankheiten kurierte. Erst später habe ich den schrecklichen Sinn der Worte verstanden.

Obgleich die NÖP einige Monate vor meiner Geburt proklamiert wurde, waren die Zeiten schwierig. Mama erzählte, dass sie den Hunger mit Hilfe von frühreifen Äpfeln, aus dem Garten, der an unser Haus grenzte, linderte. Während der Hungerszeit erhielten sie einige Pakete der amerikanischen Organisation APA. Da sie ein Kind erwarteten, hoben sie den Grieß aus den Paketen auf und – oh, menschliche Undankbarkeit! – ich konnte mein gesamtes Leben keinen Grieß mehr sehen.

Schemenhaft gehen meine Kindheitserinnerungen bis zu dem Zeitpunkt zurück, zu dem ich ein Jahr alt war: ich kann mich daran erinnern, wie mein Vater mich abends immer schaukelte und dabei immer das Gedicht „Der Engel“ von Lermantow rezitierte, das ich bereits mit sehr jungen Jahren auswendig kannte. Ich glaubte wirklich, dass der Engel am Himmel und durch die „Mitternacht“ flog und entgegen meines von Geburt an vorhandenen Gefühls für das Exakte klärte ich nicht, was genau „Lunoch“ war. Aber die Neigung zur Genauigkeit und absoluten Wahrheitsliebe waren seit frühester Kindheit inhärente Charakteristika – das mathematische Erbe meines Vaters sowie seiner ganzen Familie. Ich brachte keine ungenauen Sätze hervor und wenn jemand einem Irrglauben auflag, und sei es nur in Bezug auf irgendeine Kleinigkeit, wollte ich sofort aufklären, verbessern, präzisieren. Hier zwei Beispiele dieser angeborenen Vorliebe für Exaktheit, an die ich mich selbst nicht erinnere, von denen mir jedoch Verwandte oft erzählten. Mein (um 23 Jahre) ältere Bruder Alexej studierte in Petrograd und kam in den Ferien bis zu seiner Hochzeit immer nach Pskow. Bei einem seiner Besuche ging er mit mir spazieren, ich war zwei Jahre alt, ich wurde müde und er nahm mich auf den Arm. Wir trafen irgendwelche Bekannte von ihm, die nicht die gesamte Familie kannten, und einer von ihnen rief: „Alexej Alexandrowitsch, Sie sind bereits verheiratet, und was für eine Tochter Sie haben!“ Noch bevor mein Bruder antworten konnte, ertönte mein Stimmchen: „Nein, Lescha ist mein Bruder.“

 

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Übrigens, was den Vatersnamen meiner Schwestern und Brüdern mütterlicherseits betrifft: er war deckungsgleich mit meinem, weil der erste Mann meiner Mutter ebenfalls Alexander hieß. Sie hat nicht nur einmal erzählt, wie sie mit ihrem ersten Mann bei Pskow im Fluss gebadet und irgendwie ihren Ehering verloren hatte. Sie war deswegen außer sich, aber den Ring konnte sie nicht mehr finden. Am nächsten Tag, sie badete an genau der gleichen Stellen, sah sie etwas unter einem Stein funkeln: das war ihr am Vortag verloren gegangene Ring. Die alte Kinderfrau sagte daraufhin zu ihr: „Einen Alexander verlierst Du, dafür findest Du einen anderen“. Sicherlich war es reiner Zufall, dass sich diese Sache bewahrheiten sollte. Aber ist es noch Zufall, wenn genau dieselbe Kinderfrau über den zu dem Zeitpunkt noch jungen Iljuscha sagte: „Er wird nicht lange leben“? Anhand von Krankheiten konnte sie dies nicht feststellen, er war kein kränkliches Kind und starb auch nicht an einer Krankheit. (Selma Lagerlöf erzählt von zwei alten Frauen, die sich im alten Norwegen treffen und nachdem sie ein Kind angeschaut hatten, bestimmen konnten, ob diesem ein langes Leben beschieden war oder jung sterben würde – auch hier geht es übrigens nicht um kranke Kinder, und sie starben in jungen Jahren selten durch Krankheiten, sondern aufgrund unglücklicher Umstände oder durch Krieg. Aber musste sie solche Dinge Mutter erzählen?)

Aber kehren wir zu meiner angeborenen Neigung zur Genauigkeit zurück. Eines Tages Abends (in Pskow musste im Dezember bereits vier Uhr nachmittags das Licht in der Wohnung angeschaltet werden) fuhr Mama mit mir in der Straßenbahn.

Einer der Passagiere zeigte aus dem Fenster und sagte: „Die Venus!“ Und irgendeine romantische Dame seufzte: „Ach, die Venus, der Abendstern!“ und sofort, den romantischen Zauber zerstörend, ertönte mein Stimmchen von Mamas Knien: „Die Venus ist kein Stern, sondern ein Planet!“ Ich war zu der Zeit drei Jahre alt und meine Korrektur wurde von allen Passagieren begeistert aufgenommen. Aber wenn Verbesserungen nicht von dreijährige Kinder vorgenommen werden, sondern von bereits erwachsenen Menschen, löst das selten beim Verbesserten Begeisterung aus, eher das Gegenteil, Unbehagen und Zerknirschung, selbst wenn der Verbessernde vollkommen Recht hat, beziehungsweise gerade dann, wenn er Recht hat. Und sollte man immer alle verbessern, die sich irren oder falsch liegen? In einigen Fällen sollte es zumindest versucht werden, in anderen ist es besser, den Leuten ihre Fehler und Illusionen zu lassen.

 

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Alles und jeden kann man sowieso nicht verbessern, korrigieren oder in Ordnung bringen. Und was ist überhaupt richtig, und was nicht? Für den Romantiker ist die Venus in der Tat der Abendstern. Was interessieren ihn astronomische Begrifflichkeiten. Nur Eines: Der Diffamierung eines anderen Menschen, unabhängig davon, ob gewollt oder unabsichtlich, muss in jedem Fall entgegen getreten werden, wenn die Möglichkeit dazu besteht. Als ich geboren wurde, war nur noch meine Schwester Lena im Haus, aber sie heiratete bald und zog nach Petrograd. Tanja war bereits früh verheiratet und hatte einen sechs Monate alten Sohn, so dass sich Mama oft gemeinsam um die Tochter und den Enkel kümmerte, damit Tanja mit ihrem Mann irgendwohin auszugehen konnte. Aber auch ihre Familie ging bald nach Petrograd.

Mein Vater wurde verhaftet, als ich drei Jahre alt war. Tanja ist sofort aus Petrograd angereist, um Mama zu unterstützen. Während Mama durch sämtliche Instanzen ging und für die Übergabe von mitgebrachten Dingen an die Gefangenen in der Schlange stand, schlug sich Tanja mit mir herum. Ich erinnere mich gut an die graue Gefängnismauer und die kleinen vergitterten Fensterchen, die von Lichtkegeln beleuchtet wurden. Ich erinnere mich daran, wie Tanja mich mit ausgestreckten Armen ganz hoch hielt, damit mein Vater mich von seiner blinden Fensterluke aus sehen konnte. Während des Rückzugs 1941 brannten die Feuerkommandos der sowjetischen Truppen auch dieses Gefängnis für politische Gefangene nieder. Unter den lebendig Verbrannten oder am Rauch Erstickten befand sich auch einer meiner früheren Schullehrer. Aber darüber später mehr.

Die Geschichte, aufgrund derer wir aus unserem Haus, um das während des Bürgerkrieges so viel Schreckliches und Trauriges passierte, ausziehen mussten, ist nicht besonders schön. Aber, wie sagt man: Man sollte die ganze Geschichte erzählen, ohne unangenehme Teile auszulassen.

Dieses Haus gehörte bis zur Revolution einem Geistlichen. Dieser ahnte sofort die Gefahr für sich und seine Familie und beschloss, irgendwohin weiter wegzuziehen, wo man ihn nicht kannte. Er hoffte im Falle des Siegs der Weißen zurückzukehren und bat meine Eltern, sich in seinem Haus niederzulassen, da mein Vater als Mathematiklehrer selbst von den Roten in Ruhe gelassen wurde, und das Haus und der Garten auf diese Weise erhalten bleiben würden. Meine Eltern willigten ein. Neun Jahre lang hörten und wussten sie nichts von diesem Geistlichen und seiner Familie.

 

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Meine Eltern wurden tatsächlich in Ruhe gelassen. Ich weiß nicht, wie die Eigentumsrechte dieses Hauses geregelt waren, über die mein Vater, selbstverständlich, nicht verfügte, aber wir lebten in diesem Haus, und das Haus, die Möbel und der Garten blieben vollkommen erhalten. Im Herbst 1926 kehrte der Geistliche unerwartet mit seiner Familie zurück. Er beschloss, dass die NÖP an Boden gewann und dass es nichts zu fürchten gab. Das Land hatten sie nicht verlassen, sie waren irgendwo im Ural bei Verwandten. Meine Eltern begrüßten sie freudig. Aber sie forderten sofort unseren Auszug aus dem Haus, das ziemlich stark ausgebaut wurde, damit wir vorübergehend alle in diesem Platz finden konnten, vor allem, da unsere Familie zu dieser Zeit wieder zusammengeschrumpft war. Mein Vater beabsichtigte keineswegs, nach der Rückkehr des Hausherrn im Haus zu bleiben, aber er bat um Aufschub, bis wir eine angemessene Wohnung gefunden haben, was bereits zu diesem Zeitpunkt angesichts des sich wieder füllenden Pskows eine Herausforderung darstellte.

Den Winter vor der Tür und mit einem Kleinkind wollten meine Eltern nicht einfach irgendwohin ziehen. Aber der Geistliche forderte den unverzüglichen Auszug, wohin, war im vollkommen egal. Mein Vater lehnte ab und sagte, er werde eine Wohnung suchen, wir aber erst ausziehen würden, wenn wir eine passende gefunden haben und nicht früher. Daraufhin zerrte er meinen Vater vor das Volksgericht. Er forderte unseren sofortigen Auszug. Mein Vater war, nachdem er das Haus neun Jahre lang erhalten hatte, so sehr von seinem Recht, im Haus bleiben zu können, bis er eine eine Wohnung gefunden hatte, überzeugt, dass er sich nicht mal einen Anwalt nahm. Der Geistliche hingegen engagierte einen geschickten Rechtsvertreter.

Dieser reichte eine zusätzliche Klage ein: Sämtliche Äpfel aus dem Garten, die wir in den letzten neun Jahren gegessen hatten, sollten finanziell ersetzt werden. Durch diese Zusatzklage, die er selbst nicht ernst nahm, eröffnete er dem Gericht die Möglichkeit, „Gerechtigkeit zu zeigen“: die Apfelklage wurde abgelehnt, aber im wesentlichen Punkt verlor mein Vater – wir mussten unverzüglich aus dem Haus ausziehen.

 

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Der Geistliche triumphierte. Bekannte waren uns dabei behilflich, kurzfristig eine Wohnung zu finden, eine frühere herrschaftliche Wohnung, mit großen Räumen, hohen Decken, einem Kamin im großen Zimmer und … defekten Öfen. Diese konnte man nicht anheizen. Obgleich wir im offenen Kamin viel Holz verfeuerten, wurden die Räume nicht warm. Wir trugen in der Wohnung Filzstiefel und Wintermäntel, mir schwollen, als Fünfjährige, die Finger vor Kälte an. Es sollte noch hinzugefügt werden, dass die NÖP bald ein Ende fand. Sein Haus verlor der Geistliche, und er selbst ist anscheinend verhaftet worden. Ich kenne sein Los nicht genau. Meine Eltern gingen Gesprächen darüber aus dem Weg und waren niemals schadenfroh. Ich sollte noch in diesem Haus verkehren, das, wie viele Häuser in der UdSSR, vor Bewohnern überquoll. Dort wohnten zwei Schwestern, die als Lehrerinnen arbeiteten und bei denen auch ich lernte. Der Garten existierte schon nicht mehr.

Zum Frühling fanden wir doch noch eine passende Wohnung, in der wir auch lange wohnten. Diese war in einem zweistöckigen Holzhaus, in welchem vier Wohnungen aus jeweils fünf Zimmern und einer Küche Platz fanden. Zu Beginn bewohnten wir allein eine von diesen Wohnungen, deren Fenster nach Osten und Süden gingen; eine sehr sonnige und warme Wohnung. Diese verfügte über alles, was sich gehörte: ein Esszimmer, Wohnzimmer, ein Büro für Papa, das Schlafzimmer der Eltern und mein Kinderzimmer. Aber dieser Luxus sollte nicht lange anhalten. Man begann Wohnraum zu rationalisieren, und meine Eltern haben zuerst freiwillig zwei Schwestern in die Wohnung aufgenommen, Studentinnen des pädagogischen Technikums, nachdem das Kinderzimmer abgeschafft wurde. Aber dann mussten zwei Räume abgegeben werden. Diese hatten einen eigenen Eingang vom Flur aus, und das Esszimmer ging in das Wohnzimmer über. Da man über Zwischentüren in alle Zimmer gelangen konnte und aus zwei Zimmern ein Ausgang zum Flur existierte, hätte noch ein weiteres mit den zwei bereits abgegebenen Zimmern zusammengelegt werden können, wenn dieses uns entzogen worden wäre. Danach haben auch viele getrachtet. Um dieses dritte Zimmer führten meine Eltern einmal einen aufreibenden Kampf, und dieses zu behaupten, gelang ihnen nur, weil in Pskow eine pädagogische Universität eröffnet wurde und mein Vater, der dort Dozent der höheren Algebra wurde, das Recht auf ein eigenes Büro erhalten hatte.

 

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Auch zu diesem Haus gehörte ein Garten. Pskow versank vorher allgemein in Gärten. All dies starb vor den Augen. Im Garten neben dem Haus gab es auch viele Apfelbäume, daneben Himbeersträucher, schwarze und rote Johannisbeeren. Die Bewohner beschlossen, die Früchte zu ernten und nach der Anzahl der Familienmitglieder zu teilen, und den Kindern zu erlauben, in den Garten zu gehen und so viele Früchte von den Sträuchern zu essen, wie sie wollten. Zuerst wurden die großen Himbeeren und Johannisbeeren gegessen, und auch von den Äpfeln erhielten alle Familien ordnungsgemäß. Die Früchte ernten und teilen wollten alle, aber sich um die Sträucher und Bäume kümmern wollte oder konnte niemand. Zuerst starben die Sträucher ab, so dass es weder Himbeeren noch Johannisbeeren gab. Danach er froren allmählich die nicht winterfest gemachten Apfelbäume. Am längsten hielt sich ein Apfelbaum mit chinesischen Äpfeln, und diese wurden noch für Konfitüre gesammelt. Irgendwann kapitulierte auch dieser.

Das gleiche Schicksal ereilte auch andere Obstgärten in Pskow. Und später hatten wir persönlich nur deshalb Äpfel, weil in derselben Straße unsere alte Bekannte ihr kleines Häuschen und den dazugehörigen Garten erhalten konnte. Sie verkaufte guten Bekannten Äpfel. In den staatlichen Läden gab es, selbstverständlich, keine Äpfel, auch auf dem Kolchosemarkt, von dem die gesamte Stadt lebte, wurden keine Äpfel verkauft. Es verschwand übrigens auch der Fisch aus dem ehemals für Fisch sehr bekannten Pskow: zwei Flüsse, unweit des Pskower Sees. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Mama Mengen von Fisch vom Basar mitbrachte, und ich mich an sie lehnte und bat, gefüllten Hecht nach einem jüdischen Rezept zu machen, das meine Oma in Polen und von ihr Mama gelernt hatte. Aber nach und nach verschwand der ganze Fisch, und außer kleinem Stint war nichts zu bekommen. Mein Vater schüttelte den Kopf und sagte: „Alles hat Stalin aufgegessen, sowohl die Äpfel, als auch den Fisch, was für ein Nimmersatt“.

Die Zeit der NÖP ist für mich, als Kind, verbunden mit einer Bäckerei um die Ecke, in der es üppige Brötchen, schmackhafte Törtchen und eine ebenso üppige Bäckerin gab, die für die Kinder, die in den Laden kamen, immer Sahnebonbons hatte. Derart leckere Brötchen, wie sie mir in meiner Kindheit schienen, habe ich nie wieder gegessen. Zusammen mit der NÖP verschwanden auch die Bäckereien, und die Brötchen, es tauchten Lebensmittelkarten, langweiliges Graubrot auf. Aber richtigen Hunger gab es im Norden nicht. Niemand wollte in die Kolchosen gehen, aber solch ein Widerstand, wie in den wohlhabenden Schwarzerde-Regionen, war nicht zu beobachten. Und die Obrigkeit drückte in Bezug auf diese armen Regionen ein Auge zu. Ebenso verfuhren übrigens auch die Deutschen während der Okkupation. Nachdem eine Auflösung der Kolchosen in der Ukraine verboten und die Ukrainer gegen sich bewaffnet wurden, schenkten sie dem armen Norden keine Aufmerksamkeit. Die Bauern teilten selbst den Boden unter sich auf und konnten bereits innerhalb eines Jahres sehr gut ihren eigenen Landwirtschaftsbetrieb aufbauen. Aber davon später.

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Den Sommer verbrachten wir gewöhnlich jedes Jahr in einem der umliegenden Dörfer. Mehrere Jahre verbrachten wir den Sommer in einem Dorf, das sich nicht weit von der Station Toroschino befand, 20 Kilometer von Pskow entfernt. Wir mieteten ein separates Häuschen mit einer Küche und einem Herd. Insbesondere in diesen Jahren sammelten wir massenhaft Pilze. Abends wurden diese geputzt und das abendliche Pilzmahl zubereitet sowie diese für den Winter konserviert: Die Pilze wurden gesalzen, eingelegt, getrocknet. Tschernobyl war noch weit weg und es gab keinen Grund, den Genuss von in saurer Sahne geschmorten oder gebratenen Pilzen zu fürchten.

Das Häuschen hatte einer der Bauern – ein hochgewachsener, wortkarger, rothaariger Mann, von dem nachgesagt wurde, er könne Schlangenbisse besprechen – für Sommergäste errichtet. Im Sommer arbeitete er ohne Pause von vier Uhr morgens und erarbeitete sich mit der Familie einen gewissen materiellen Wohlstand. Dafür wurde er später als Kulak bezeichnet und verhaftet. Sein Sommerhaus stand daraufhin verwahrlost und zerfiel nach und nach. Wir fuhren nicht mehr in dieses Dorf in den Sommerurlaub. In Toroschino lernten wir auch den dortigen Bahnhofsvorsteher kennen, den außergewöhnlich gastfreundlichen Maslennikow, der mit einer Deutschrussin verheiratet war, welche unermüdlich die unterschiedlichsten Leckereien zubereitete, mit welchen anschließend ein großer Tisch gedeckt wurde.

Während er diesen präsentierte, dröhnte der Hausherr: „Es gibt was zu beißen!“ Sie hatten drei Töchter, und die beiden älteren, Ira und Lida, lebten eine Zeit bei uns in unserer Wohnung, in meinem früheren Kinderzimmer, beide studierten im pädagogischen Technikum.
Die Geschichte dieser Familie war eine typisch sowjetische: Maslennikow wurde verhaftet und die Familie wurde ins Hinterland (101. Kilometer) verbannt. Über ihr weiteres Schicksal wissen wir nichts.

Meine Eltern scheuten sich nicht, in meiner Gegenwart über Politik zu reden, und ich verstand sehr früh, mit 6 Jahren, die Verantwortung, die ich für meine Eltern trug und dass ich mein Worte abwägen musste und nicht ausplaudern durfte, dass meine Eltern, beispielsweise, irgendwann mal ihre besondere Hoffnung auf Admiral Koltschak legten.

Auch wenn seine militärischen Operationen weit entfernt von unserer Gegend stattfanden, hofften sie seinerzeit dennoch, dass sein Sibirischer Staat nach und nach Gesamtrussland befreien würde. Ich bedaure nicht, dass meine Eltern in meiner Gegenwart offen sprachen, aber ich denke, auch sie verstanden nicht zu Gänze, welches Gewicht dadurch auf die Schultern eines Kindes gelegt wurde, das seine Worte aus Verantwortung gegenüber seiner Eltern abwägen musste. Bereits in der Emigration erzählte mir eine meiner Bekannten: Einmal führte ein Hausverwalter (genauso wie die berüchtigten Hauswarte im nationalsozialistischen Deutschland waren die sowjetischen Hausverwalter in vielen Fällen Geheimdienstagenten) ein Gespräch mit ihrem vierjährigen Sohn. Sie war mit einem früheren Offizier verheiratet, was sie geheim zu halten versuchten, und sie befürchtete, dass das Kind irgendetwas von ihren Gesprächen mitbekommen hatte und der Hausverwalter nun etwaige Informationen von diesem erfährt. Nachdem sich dieser verabschiedet hatte, fragte die Mutter den Jungen vorsichtig: „Nun, was hat Dich der Onkel denn gefragt?“ Der Kleine schaute sie mit großen Augen an und sagte: „Keine Angst, Mama, ich bin kein redseliger Junge, ich werde nicht von Papa erzählen“. Kinder begreifen viel mehr, als die Erwachsenen oft denken.

 

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Übrigens hatte ich im frühen Kindesalter wenig Gefährten und Freunde, ich wuchs als Einzelgängerin auf, las viel. Aber im Alter von 6 bis 10 Jahren war der Sohn unserer engsten Bekannten, mit welchen meine Eltern auch politische Themen offen diskutierten, mein wichtigster Spielkamerad.

Mein Vater hatte einen engen Freund, einen Künstler deutscher Abstammung, der jedoch der deutschen Sprache nicht mehr mächtig war, Wladimir Ottonowitsch Rechenmacher. Er war in erster Linie Landschaftsmaler. Zur Abschlussprüfung der Akademie der Künste (noch vor der Revolution) hatte er das ziemlich bekannte Gemälde „Puschkin und Mickiewicz am Denkmal von Peter dem Großen“ gemalt. Dieses war populär, seine Reproduktionen gab es in einer Reihe von Chrestomathien. Er hatte es dem Puschkin-Museum geschenkt, wo sich später ein Feuer ereignet hatte, in welchem das Bild verbrannt war. Er wurde oft gebeten, es zu rekonstruieren, aber realiserte dies erst kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Erneut schenkte er es dem Puschkin-Museum in Pskow. Was mit diesem Bild während des Krieges geschah, weiß ich nicht. Von seinem Schöpfer wird noch die Rede sein. Er war alleinstehend und verkehrte oft bei uns. Er lebte zusammen mit der Familie seiner verheirateten Schwester, und der jüngste Sohn dieser Schwester, Dima, war meines Alters und mein Spielkamerad. Wir spielten wilde Tiere, auf Reisen und, jedoch bedeutend seltener, Krieg.
Neben meinen Eltern hatte meine Deutschlehrerin, Lidija Alexandrowna Germeier, bei der ich noch vor Schulbeginn Privatunterricht hatte, einen großen Einfluss auf mich. Sie stammte aus einer Familie, die in Russland zu Reichtum gekommen war, aber dennoch ihre Beziehungen zu Deutschen in Deutschland aufrechterhielt. L.A. war noch in Deutschland selbst zur Schule gegangen, in ein Lyzeum, natürlich vor der Revolution. Sie war seit ihrer Geburt behindert, hatte krumme Finger und Zehen, konnte gehen, aber benutzte seit ihrer Kindheit einen Gehstock. Sie wurde von der Familie verwöhnt, weil man sie unvernünftigerweise außerordentlich bedauerte. Jedoch wurde sie durch die Verwöhnung nicht verzogen. Sie fand ihren Weg, nachdem sie bewusst eine gläubige Christin geworden war, gleichwohl sie irgendeiner Glaubensgemeinschaft angehörte, die sogar ärztliche Hilfe ablehnte: Gott obliegt die Entscheidung über Tod oder Genesung. So erkrankte sie während der Hungerjahre im Anschluss an die Revolution an Fleckfieber, lehnte eine ärztliche Behandlung ab und wurde ohne Arzt wieder gesund. Aber ihr war nichts Fanatisches oder Dunkles zueigen.

Sie war immer ausgeglichen, stets gut gelaunt, sie zeichnete sich durch ein sehr starkes Naturell und eine nicht weniger stark ausgeprägte christliche Liebe zum Menschen aus. Niemals predigte oder belehrte sie, dennoch vermittelte sie mir wie beiläufig mein erstes Verständnis von Jesus Christus, aber daran erinnere ich mich mein Leben lang. Sie war eine treffliche Lehrerin, sie konnte/verstand es, die Struktur der Sprache so zu lehren, so dass es mir danach leicht fiel, anhand bekannter Wurzeln mit den entsprechenden Präfixen und Suffixen selbständig Wörter zu bilden, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, und um so mehr neue Wörter verstehen, auf die ich stieß.

 

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Sie lebte zusammen mit der Witwe ihres früh verstorbenen jüngeren Bruders und seinen zwei Töchtern. Die Ältere war unverheiratet und in irgendeinem Büro angestellt. Die Jüngere, Edwarda, war mit einem russischen Studenten verheiratet, der in Leningrad Bergbau studierte. Sie hatte bereits zwei Kinder – zwei Jungen, und wenn ich mich recht erinnere, erwartete sie das dritte Kind, wobei wir alle, also wir Schüler, uns für sie freuten und ihnen eine Tochter wünschten, die dann auch geboren wurde. Die Mutter von Edwarda, die ebenfalls Privatunterricht in Deutsch gab, und L.A. halfen der jungen Familie durchzukommen, so lange der Ehemann und Vater studierte. Bald nach der Geburt der Tochter, die Ljudmila genannt wurde (damit sie lieb zu den Leuten sein würde), beendete der Mann Edwardas das Bergbauinstitut und erhielt eine Anstellung in Lipetzk in der Schieferindustrie. Mit ihm und seiner Familie zogen auch seine Schwiegermutter und Schwägerin fort, aber L.A. blieb bei ihren Schülern. Sie sagte: „Jetzt brauchen sie mich nicht mehr“. Ich hatte auch weiterhin bei ihr Unterricht, als ich bereits begonnen hatte, die Schule zu besuchen.

Ich war vierzehn Jahre alt, als diese Familie das typische, sowjetische Schicksal ereilte. Der junge Ingenieur wurde verhaftet: wie man es zuerst ausdrückte, wurde er vermisst. Daraufhin machte sich L.A. auf den Weg. „Jetzt brauchen sie mich erneut“, sagte sie. Ich empfand ihre Abreise als großen persönlichen Verlust und wollte mit niemand anderem die Unterrichtsstunden in deutscher Sprache fortsetzen. Wir blieben in Briefkontakt, aber eine eingehende Neuigkeit waren schlimmer als die vorherige. Zuerst erkrankte die kleine Ljudmila an Scharlach und starb. Ihr hatte sichnicht mehr die Gelegenheit geboten, lieb zu den Menschen zu sein. Dann erkrankten Edwarda und ihre Mutter an Unterleibstyphus. Die Ältere, die Mutter wurde gesund, während die Jüngere starb. In der Obhut der Tante und zweier Großmütter verblieben die verwaisten Jungen von sieben und fünf Jahren. Und dann kam der erste Brief des Vaters aus dem Lager. Die beiden älteren Frauen weinten lange ob dieses Briefes und wussten nicht, wie sie dem Ehemann und Vater mitteilen sollten, dass sowohl seine Frau als auch seine Tochter nicht mehr am Leben waren. Irgendwie haben sie doch alles zu Papier gebracht. Der Vater, der auch in Gefangenschaft seinem Beruf nachging, anscheinend wurde er nur deshalb verhaftet, weil ein kostenloser Spezialist benötigt worden war, sparte von den Groschen, die diesen Gefangenen gezahlt wurden, um sich im Lager eine Mahlzeit zu kaufen, eine kleine Summe an und schickte sie für die Söhne aus dem Lager. Das Geld wurde, natürlich, zurückgesendet. Drei Frauen waren bei alldem in der Lage, zwei Kinder durchzubringen. Der Krieg hat unsere Verbindung abbrechen lassen, über ihr weiteres Schicksal weiß ich nichts.

Im Winter 1928 überstand mein Vater eine sehr schwere Grippe, er befand sich am Rande des Todes. Als Sechsjährige habe ich lediglich schemenhaft die Gefahr begriffen, bemerkte aber, dass Mama manchmal im Stillen weinte. Zu dieser Zeit schickten die Ärzte Leute mit schwachen Bronchien oder Lungen in den Süden, auch meinem Vater wurde nach der Genesung geraten, dorthin zu fahren.

Das war meine erste Reise in den Kaukasus. Wir verbrachten einige Wochen in Gelendschik, wo ich meinen 7. Geburtstag erlebte. Aber weder das Meer noch das kaukasische Vorgebirge versetzten mich am meisten in Erstaunen, sondern die dunklen und warmen Nächte.

 

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Ich war daran gewöhnt, dass dunkle Nächte ziemlich kalt sind und warme Nächte im Sommer vorkommen und hell sind. Dunkle und warme Nächte waren für mich zu der Zeit eine Naturanomalie und erstaunten mich sehr.

Unterwegs machten wir einen Halt in Armawir und um zu erklären, wen wir dort trafen, muss ich weit vor die Geschichte zurückgreifen.

Meine Großmutter mütterlicherseits starb mit 39 Jahren bei der Geburt ihres letzten Kindes. Mama, das erste Kind in der Familie, war zu der zeit bereits verheiratet, lebte in Petersburg und erwartete ihr zweites Kind. Mein Onkel Wasili, der anderthalb Jahre jünger war als meine Mutter, studierte in Petersburg am Institut für Verkehrswesen. Dann starb er auf tragische Weise: er machte ein Praktikum bei der Eisenbahn und fiel unter eine rangierende Dampflok und wurde zu Tode gequetscht. Mamas Schwester Anna, die drei Jahre jünger war als sie, lebte noch zu Hause, heiratete aber bald und zog ebenfalls nach Petersburg. Im Haus blieben der vierjährige Sohn, Wolodja, und die neugeborene Natascha. Nach zwei Jahren heiratete Großvater zum zweiten Mal. Er war 50 Jahre alt, seine zweite Frau jedoch 25.Sie war nicht besonders schön und galt bereits als alte Jungfer; ob sie Großvater heiratete, um überhaupt zu heiraten oder er ihr gefiel, vermag ich nicht zu sagen. Auch junge Frauen konnten Gefallen an ihm finden: großen Wuchses, stattlich, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, hellblondem Vollbart und hellblonden Haaren ähnelte Großvater einem altehrwürdigem Bojar, wie sie in Bildern dargestellt wurden. Möglicherweise hielt sich deshalb in der Familie die Legende, dass sie von einem Bojaren abstammten, der vor dem Zorn Iwan des Schrecklichens ins damals noch freie Pskow geflüchtet war. Seinen Namen allerdings hatte er nicht verraten und lebte als einfacher Mensch, man nannte ihn einen „Homo novus“, wovon auch der Familienname meines Großvaters abgeleitet wurde – Nowikow. Indem sie meinen Großvater heiratete, adoptierte Maria Iwanowna (Großmutter habe ich sie nie genannt) den sechsjährigen Wolodja und die zweijährige Natascha. Leider Gottes, war sie eine Stiefmutter wie sie im Buche stand. Die Kinder konnte sie nicht ausstehen und machte ihnen buchstäblich das Leben schwer. Großvater habe ich lediglich als bereits alten Mann in Erinnerung, er starb 1927 im Alter von 76 Jahren. Ich erinnere mich an die Beerdigung, und an das Geschrei und Gejammer Maria Iwanownas, die mir, trotz der Tatsache, dass ich lediglich ein kleines Mädchen gewesen war, unecht erschienen. Maria Iwanowna lebte noch lange mit Hilfe der kleinen Witwenrente, wir unterstützten sie mit Lebensmitteln und ein wenig Geld, ebenso Natascha, ungeachtet ihrer schweren Kindheit. Natascha lebte für eine längere Zeit im Haus meiner Eltern, nachdem sie geheiratet hatte, sie war im gleichen Alter wie meine älteren Brüder und Schwestern. Aber dann kehrte sie dennoch in das Haus des Vaters und der Stiefmutter zurück.

 

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Während des Bürgerkrieges schloss sich Onkel Wolodja der Armee Judenitschs an und kam um. Und Natascha, die zu der Zeit bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter lebte, verliebte sich in einen roten Partisanen. In unserer äußerst antikommunistischen Familie, in der überhaupt keine Parteimitglieder existierten, weder Onkel oder Tanten, noch Brüder oder Schwestern noch ihre Ehemänner standen der Partei nahe, tauchte schreckliche Verwandtschaft auf. Aber man sagt: „Keine Familie ohne ein schwarzes Schaf“.

Ob die schwere Kindheit eine Rolle spielte oder es sich einfach um eine abgöttische Liebe handelte? Natascha heiratete ihren Partisanen, und er machte eine einschlägige Karriere.
1928 war der Mann meiner Tante, Suworowski, Kommandeur der GPU in Armawir. Weshalb mein zutiefst prinzipientreuer Vater nicht die Beziehung mit diesem Teil der Verwandtschaft beendete, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich erinnere mich, wie sie in Armawir beschlossen, in einem Automobil eine Spazierfahrt mit uns zu machen, was zu der Zeit eine Seltenheit darstellte. Wir fuhren mit offenem Verdeck, aber die Wege waren so schlecht, dass sich der Chauffeur im Schlamm festfuhr.

Das Automobil wurde anschließend mit Hilfe von Pferden aus dem Schlamm gezogen, und wir kehrten in einem schmuddeligen Nahverkehrszug nach Armawir zurück. Ich erinnere mich daran, wie der Chauffeur die Gesichtsfarbe verlor, als er mit dem Wagen stecken blieb, wie mein Vater erbleichte, daran, wie seine Augen funkelten, nachdem er an Suworowski herangetreten war, und sagte: „Geben Sie mir Ihr Wort, dass dem Chauffeur nichts geschehen wird!“ Dieser versprach es ihm. Ob er es hielt? Das wissen wir nicht.

Ein zweites Mal waren wir im Winter bei ihnen in Oral zu Besuch, wohin Suworoski mit dem gleichen Rang versetzt wurde. Ich war zu der Zeit 10 Jahre alt. Ich erinnere mich an das Schlittschuhlaufen mit meinem Altersgenossen, meinem Cousin Sereschej, ihrem einzigen Kind. Aber ich erinnere mich auch an etwas anderes. Mein Vater war mit Suworowski spazieren gegangen. Als er zurückkehrte, war er bleich und erneut funkelten seine Augen.

Ungeachtet meiner Anwesenheit sagte er zu meiner Mutter: „Ich habe ihm alles gesagt, alles über die Kollektivierung, er ist doch ein Bauernsohn,und überhaupt…“ Auch Mama wurde weiß und fragte ängstlich (der Ehemann der Schwester, aber…): „Und er?“ Mein Vater antwortete: „Er schwieg während des gesamten Weges, brachte nicht ein Wort heraus“. 

 

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Für meinen Vater blieb dieses Gespräch ohne Konsequenzen. Allerdings vergingen 5 Jahre, bevor Suworowski aufwachte, 5 Jahre der Verfolgung seiner eigenen Leute, von Parteigenossen. 1936 sagte er, bevor er zu einer geheimen Parteiversammlung fuhr, zu seiner Frau: „Ich werde ihnen alles sagen“. Aber bis zu welchem Ausmaß sich die Menschen unter der Hypnose ihrer eigenen Partei befanden! Sie sagten „alles“ lediglich auf ihren geheimen Versammlungen. Er wusste doch, dass er von dieser Versammlung nicht nach Hause zurückkehren würde, aber die tief verinnerlichte Parteidisziplin zwang ihn, „alles“ nur auf geheimen Versammlungen zu sagen. Er kehrte nicht nach Hause zurück. Meine Tante wurde bald offiziell davon in Kenntnis gesetzt, dass er erschossen wurde. Daraufhin zog sie nach Jaroslawl, wo ihre ältere Schwester, Anna, lebte. Deren Ehemann, ein Bahnstreckeningenieur, wurde einige Jahre früher verhaftet, Tante Njuta wurde auf den 101. Kilometer verbannt. Sie hat sich in Jaroslawl arrangiert. Ihr Mann musste im Lager den Bau irgendeines Eisenbahnstreckenteils zu leiten, nach zwei Jahren war dieser abgeschlossen und man teilte ihm mit, dass die Haft ein Fehler gewesen sei und entließ ihn. Aber er war kein junger Mann mehr und starb bald darauf an einem Herzinfarkt. Also ließen sich die beiden Schwestern gemeinsam nieder: der Ehemann der einen starb, schuldlos, man benötigte einfach einen kostenlosen Spezialisten; der Mann der anderen war ein Henkersknecht, der jedoch in irgendeinem Moment Reue verspürte und ihnen die Wahrheit sagte, zumindest den Teil, den er selbst begriff.

Es bleibt lediglich hinzuzufügen, dass ungeachtet der offiziellen Erklärung Suworowski nicht erschossen wurde. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges erhielt meine Tante unerwartet einen Brief von ihm von der Front. Er hatte in Einzelhaft gesessen und wurde an die Front geschickt, in dem berüchtigten „Bataillion der Todgeweihten“, das heißt in einer aussichtslosesten Lage. Es dauerte nicht lange und meine Tante erhielt eine zweite Erklärung seines Todes. Nur dieses Mal entsprach sie der Realität. Im Krieg fiel auch ihr einziger Sohn Serjoscha. Wir erfuhren von all dem erst bedeutend später, als wir uns bereits im Exil befanden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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