Vera Pirozhkova und ihr Buch "Meine drei Leben. Autobiografische Skizzen"

AUS DEM BUCH

   

           Erstes Buch

          Zweiter Teil

                    Die Schulzeit

                    Fünfte bis siebte Klasse

Ich kam mit elf Jahren in die Schule, direkt in die fünfte Klasse. Wie das während unter der Sowjetmacht möglich war? Dies war durchaus möglich. In Pskow lebte eine große Zahl ehemaliger Schüler meines Vaters, unter diesen auch viele bekannte Ärzte, und ich wuchs zu einem äußerst schwachen und kränklichen Kind heran. Ich erkrankte, neben Scharlach, nicht nur an sämtlichen Kinderkrankheiten, sondern erkältete mich auch ständig: Angina, Mandel entzündung, Grippe und einfache Erkältungen einhergehend mit hoher Temperatur waren beinahe meine ständige Verfassung. Die Ärzte attestieren, dass ich aufgrund meiner gesundheitlichen Verfassung nicht in die Schule gehen könne, und mein Vater verbürgte sich dafür, dass ich in alle unterrichtet würde, was für die Elementarschule nötig war. Ich wusste, selbstverständlich, mehr als die Mehrheit der Schüler der Elementarschule, las das Meiste von allem nochmals in neuer und alter Rechtschreibung, die mich nicht abschreckte, durch.

Fundiertes arithmetisches Wissen wurde mir ebenfalls vermittelt, die Geografie kannte ich bereits gut aufgrund meiner Begeisterung für Reiseberichte: ja auch die Spiele mit meinen Freunden fanden nicht ohne eine riesige Landkarte statt, die wir auf dem Boden ausbreiteten, um genau unsere zukünftigen Reisen und Abenteuer zu bestimmen. Und die russische Geschichte lernte ich anhand alter vorrevolutionärer Schulbücher. In der Schule wurde diese zu dieser Zeit überhaupt nicht unterrichtet. Nur in Staatsbürgerkunde musste ich einige Stunden bei einer uns bekannten Grundschullehrerin nehmen, bevor ich als externe Schülerin zur Aufnahmeprüfung für die 5. Klasse gegangen bin. Die Schule, in die ich dann ging, wählte mein Vater mit Bedacht aus. Richtig, es war eigentlich nicht möglich, ein Kind in irgendeine beliebige Schule der Stadt zu schicken, es musste in der nächstgelegene eingeschult werden, aber wir wohnten gerade zwischen der zentralen „Vorzeigeschule“ und der Eisenbahnschule. Mein Vater konnte wählen. Die „Musterschule“ war, natürlich, gut ausgestattet, wurde aber von der Partei penibel beobachtet, während die Eisenbahnschulen (von diesen gab es zwei, aber nur eine wurde nach und nach von einer siebenjährigen in eine zehnjährige Schule umgewandelt) waren in einem leicht heruntergekommenen Zustand. Sie waren nicht dem Volkskommissariat für Bildung unterstellt, sondern dem Volkskommissariat für Verkehrswesen, so dass ihnen weniger Beachtung geschenkt wurde. Das Gebäude war alt, es existierte keine Turnhalle, und wir turnten auf dem Flur. Aber dafür war es die einzige Schule in Pskow, die einen Direktor hatte, der nicht der Partei angehörte, ein Mathematiker und ehemaliger Schüler meines Vaters.

Dorthin zogen sich, einem Refugium gleich, die Lehrer zurück, die „mit der Zeit nicht im Einklang standen“. Natürlich unterrichteten sie dem Lehrplan entsprechend, aber aus Eigeninitiative zeigten sie keinen parteipolitischen Eifer. Eine Ausnahme bildeten die Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer, aber auch sie ereiferten sich nicht, und – für eine kurze Zeit – eine Biologielehrerin.

Ich war weder im Komsomol, noch bei den Pionieren. Als alle zwangsläufig bei den Pionieren angemeldet wurden, ging ich noch nicht zur Schule. Und als ich zur Schule ging, waren alle anderen bereits bei den Pionieren und eine erneute Anmeldung fand nicht statt. Übrigens bemerkte eine Lehrerin diesen Umstand. Eine Biolehrerin, die überhaupt nicht zum Geist der Schule passte und insgesamt nur ein Jahr an ihr unterrichtete, war eine typische Komsomolzin der 20-ger Jahre. Ich wurde im Herbst 1932 eingeschult, und die Lehrerin, wenn gleich sie noch jung war, dürfte zu der Zeit bereits dem Komsomolalter entwachsen und Parteimitglied gewesen sein. Dieser nicht im alltäglichen, sondern politischen Sinne vulgäre Menschentyp einfacher Herkunft, der die neuen Lehren fanatisch bis aufs Wort verinnerlicht hatte, war charakteristisch für die 20-ger Jahre. Später habe ich einen derartigen Menschenschlag nicht mehr angetroffen. Sie beschwerte sich, wenn sie zufällig mitbekam, dass eines der Kinder in der kleinen Pause im persönlichen Gespräch „Gott sei Dank“ oder „so Gott will“ von sich gab. Und sie kritisierte, dass ich keine Pionierin war. Einmal wandte sie sich während der Stunde mit einer entsprechenden Frage an mich. Ich erinnere mich an diese Szene, als wäre sie gerade in diesem Moment geschehen. Ich stand auf, dürr und blass, was mich bis zu meinem 14. Lebensjahr, trotz aller Bemühungen meiner Eltern, mich besser zu ernähren, auszeichnete.

Im Norden existierte auch während der Kollektivierung keine richtige Hungersnot, trotz der Einführung des Lebensmittelmarkensystems, bei alledem war es noch möglich, Lebensmittel zu bekommen. Aber, wie ich bereits berichtet habe, war ich oft krank. Die gesamte Klasse schaute mich an, und ich fing mit einer mir plötzlich zueigenen Grabesstimme darüber zu sprechen an, dass ich oft krank bin, weshalb auch spät eingeschult worden war, dass ich gerade mal den Lernstoff bewältigen konnte (was überhaupt nicht der Wahrheit entsprach, da ich in allen Fächern mehr wusste, als die anderen Schüler) und zu jedweder Art zusätzlicher sozialer Arbeit, selbst zur Teilnahme an Pioniertreffen, außer Stande war. Dies war, offensichtlich, überzeugend, da die Aktivistin dazu schwieg. Schweigend hörte auch die gesamte Klasse zu.

Bald darauf verschwand sie, und an ihrer Stelle unterrichtete die nicht mehr junge, liebenswürdige, aber apathische Elena Alexandrowna Dressen Biologie und später auch Chemie. Obgleich sie für OSET (einem Hilfsverband zur Unterstützung der Juden) gesammelt hatte, tat sie auch dies ohne jeden Enthusiasmus, aber etwas wie politischen Eifer zu zeigen, kam ihr nicht mal in den Sinn.

Wir wurden zu der Zeit veranlasst, wenigstens ein paar Groschen an eine der drei folgenden Organisationen spenden: MOPR (Unterstützung der internationalen Revolution), OSET oder den Verband der streitenden Atheisten. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie lange diese Spendensammlungen durchgeführt wurde. Als ich in die 8. Klasse kam, gab es sie nicht mehr, aber ob diese in der 7. stattfanden, daran kann ich mich nicht erinnern.

Lange Zeit lief die Schule mehr oder weniger an mir vorbei. Das Zentrum meines Lebens war zu Hause. Nur allmählich begann ich, mich einigen Klassenkameradinnen anzunähern, aber eine enge Freundschaft entwickelte sich erst später.

Der Unterricht glitt an der Oberfläche dahin, ohne tiefgründiger zu werden. Ein guter Lehrer der russischen Sprache war von der 5. bis zur 10. Klasse ein älterer Lehrer vorrevolutionärer Schulung namens Grinin. Literatur unterrichtete er bei uns nicht so viel wie Grammatik, und ihm selbst wurde anscheinend übel von Serafimowitsch, Sejfullina sowie auch von Fadejew und Majakowski. Aber auch die russische Klassik, wenn wir sie durchnahmen, vermochte er nicht, uns lebendig und interessant zu vermitteln. Diese eigneten wir uns bedeutend früher an, als vom Stundenplan vorgesehen.

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Seltsamerweise kann ich mich überhaupt nicht daran erinnern, ob wir in irgendeiner Klassenstufe Unterricht in russischer Geschichte bekamen. Aber den Pokrowski habe ich anscheinend in den Händen gehalten. In den unteren Jahrgangsstufen, 5.,6. und 7., wechselten die Geschichtslehrer mit kaleidoskopartiger Geschwindigkeit. Bei mir hinterließen diese keinerlei Eindruck. Lediglich an einen erinnere ich mich, obgleich ich jetzt nicht mehr weiß, wie er hieß. Er war ein ehemaliger Partisan und später Kommissar in Fernost. Wie er dazu kam, Geschichtslehrer zu werden, entgeht meiner Vorstellungskraft, vermutlich war dies ein routinemäßiger Parteiauftrag. Er hat uns nicht in Geschichte unterrichtet, sondern erzählte äußerst farbenreich Geschichten aus dem Bürgerkrieg und beschrieb leidenschaftlich die Festigung der Grenzen des Fernen Ostens.

Er blieb nicht lange bei uns. Bedeutend später, ich war bereits Studentin, wurde in Pskow erzählt, dass auch dieser Mann beschloss, auf einer Parteiversammlung seinen Parteigenossen die „ganze Wahrheit“ zu sagen. Dies erinnerte mich an den Mann meiner Tante. Auch er konnte sich nicht von der Parteiideologie freimachen und hielt es für angemessen, auf einer geheimen Versammlung zum Ausdruck zu bringen, was das Regime verursachte, als hätte er nicht gewusst, worauf dies hinauslaufen würde. Und dieser ehemalige Lehrer wurde genau dort, auf einer Versammlung, verhaftet.

Als 1941 der Krieg begann, saß er in einem Gefängnis für politische Gefangene. Während des Rückzugs setzten die sowjetischen Truppen, genauer gesagt, die Feuereinsatzkommandos, auch dieses Gefängnis in Brand, so dass die Gefangenen am lebendigen Leib verbrannten.

Auch mein ehemaliger Lehrer war unter diesen. In der 5. Klasse war ich 11 Jahre alt, und ich war die Jüngste. Im Durchschnitt waren die Schüler und Schülerinnen 12 Jahre alt, aber ein Mädchen, mit welchem ich die Schulbank teilte und die später eine meiner engsten Freundinnen wurde, Sina, war bereits 13. Ich erwähne die Altersstufen deshalb genauer, weil wir gerade in diesen Jahren eine furchtbare Maßnahme miterlebten mussten. Einmal wurden die drei höheren Klassenstufen versammelt – zu diesem Zeitpunkt bestand die Schule noch auch sieben Jahrgängen und die höheren Klassenstufen waren die 7., 6. und unsere 5. Klasse. Alle Heranwachsenden und Kinder mussten für oder gegen die Erschießung der „Saboteure des Transportwesens“ stimmen. Das war das erste und letzte Mal für mich. Später unterließ es Stalin, einen künstlichen Nebel aus der Abstimmung von Bürgern und Kindern zu schaffen. Er erschoss ohne jedwede „Sanktionierung“.

Ich erinnere mich an unseren Klassenlehrer, den Literaturlehrer Grinin, für den die Abstimmung durch uns Kinder für oder gegen eine Erschießung offensichtlich abscheulich war, der sich aber scheute, seine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Immerhin hatte er eine Familie: eine Tochter, die eine Klasse über mir war, und einen Sohn, der 3 Jahre jünger als sie war. Wahrscheinlich war noch irgendjemand von der Partei anwesend, aber ich kann mich nicht mehr genauer erinnern. Direkt neben mir sitzend hob Sina die Hand für die Erschießung. Aber ich konnte nicht. Ich habe überhaupt nicht die Hand gehoben.

Ich entschied mich, auch nicht dagegen zu stimmen: das seit frühester Kindheit verinnerlichte Verantwor tungsbewusstsein verhinderte einen derart mutigen Schritt. Ich war einfach noch zu jung, ein solches Bekenntnis hätte man nicht meinen eigenen Überzeugungen zugeschrieben, sondern der Familie, dem, „ von dem die Familie beseelt ist“. Wir saßen in einer der ersten Reihen.

Sollte es möglich sein, dass niemand bemerkte, dass ich nicht die Hand hob? Ich weiß es nicht. Niemand sagte etwas, und die Frage „Wer enthält sich?“ wurde nicht gestellt. Vermutlich hat die Schülerin der 7. Klasse die Aufmerksamkeit von mir (meiner nicht erhobenen Hand) gelenkt, als sie gegen die Erschießung stimmte. Sie konzentrierten sich sofort auf sie: Warum habe sie gegen die Erschießung gestimmt? Sie stand auf und antwortete ruhig, dass sie allgemein gegen die Todesstrafe sei.

Ich weiß nicht, was mit ihr oder ihren Eltern danach geschehen ist. Ich war zu der Zeit noch jung, ein Schulneuling, und konnte noch nicht dem folgen, was sich erzählt wurde, um Neuigkeiten zu erfahren. Ich erinnere mich lediglich daran, dass an der Wandzeitung in der Rubrik „Was wer träumt“ geschrieben stand, dass diese Schülerin (an ihren Familiennamen kann ich mich nicht erinnern) den Traum hatte, dass die sowjetische Führung dem Saboteur der Verkehrswege einen Palast erbauen würde. Dies war eine typisch, kommunistisch verdrehte Darstellung: zwischen der Ablehnung der Todesstrafe und dem Bau eines Palastes für den zu Recht oder zu Unrecht Beschuldigten liegt ein großer Unterschied.

In der Schule nahm alles seinen gewohnten Lauf und ich wechselte, trotz häufiger Krankheit und Unterrichtsausfällen, von einer Klasse zur nächsten, mit Belobigungen.

Die furchtbarste Zeit der Kollektivierung ging im Großen und Ganzen an mir vorbei. Im armen Norden war der Widerstand nicht so groß wie im fruchtbaren Süden. Die noch während der NÖP existierenden Bäckereien verschwanden, und ohne Frage auch andere Lebensmittelläden, es wurde allerorts nur noch ein einheitliches Graubrot angeboten, später wurden die Lebensmittelmarken eingeführt. Für einen Sommer blieben wir zwar in der Stadt, normalerweise fuhren wir aufs Land in den Sommerurlaub (wo wir die lediglich für den Sommer geeignete Hälfte eines Bauernhauses anmieteten), aber eine echte Hungersnot gab es bei uns nicht. Und sämtliche Greueltaten während der Kollektivierung gingen später in mein Bewusstsein ein, und nicht zu der Zeit, zu der sie tatsächlich stattfanden. Aber an eine Szene werde ich mich ein Leben lang erinnern.

Im Sommer 1934 beschloss mein Vater, der sehr gern reiste, mit uns auf die Krim zu fahren. Zu der Zeit existierte irgendein alpiner Tourismusverband, der umstandslos alle aufnahm, darunter auch solche „Alpinisten“ wie meine nicht mehr ganz junge, behäbige Mutter sowie mich, einem Kind. Und dieser besaß in einigen Städten seine eigene Aufenthaltsstationen, in denen man speisen und übernachten konnte.

Wir als Mitglieder dieses Verbandes auch auf die Krim gefahren. Im Süden war es nicht leicht, sich gut zu ernähren, vor allem für meinen Vater, einem überzeugten Vegetarier. Es gab zwar Fleisch, aber Brot überhaupt nicht, obgleich die schlimmste Hungerzeit bereits vorbei war. Als wir durch die Ukraine reisten, bettelten auf den Bahnhöfen blasse heranwachsende Kinder mit dünnen, streichholzgleichen Armen und Beinen um Essen, Kleinkinder waren überhaupt nicht zu sehen.

Die Fahrgäste gaben, was sie konnten, aber wir, gewöhnliche Bürger, hatten selbst nur wenig. Während des Aufenthaltes auf genau einem dieser Bahnhöfe schaute einmal das dicke, vor Fett glänzende Gesicht eines sowjetischen, hohen Staatsbeamten aus dem Fenster eines internationalen Polsterklassewaggons, und die nicht weniger fette Hand warf den Kindern ein relativ großes Paket zu. Die Kinder stürzten herbei, packten es aus und … fuhren erschrocken auseinander: im Paket waren Zigarettenstummel!

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Seit dieser Zeit ist das glänzende, fettleibige Gesicht des sowjetischen Staatsbeamten, die hungrigen Kinder sowie der Spott angesichts ihres Unglücks, ihre Hungersnot zum Sinnbild der sowjetischen Obrigkeit für mich geworden.

Ich begann schon relativ früh, etwa mit zwölf Jahren, vom Sturz dieser Obrigkeit zu träumen. Diese Träume waren geprägt von kindlicher Phantasie an. Ich überlegte mir, wenn alle plötzlich aufhören würden zu arbeiten, könnte sich auch die Führungsspitze nicht halten. Dass eine derartige Aktion als „Generalstreik“ bezeichnet wurde, lernte ich erst später.

Zu dem Zeitpunkt stellte ich mir Moskau aus irgendeinem Grund immer an einem heißen und trockenem Julitag vor. Ein sanftes Lüftchen wedelte den Staub auf den verdörrten Straßen auf – und in diesen war alles leblos. Die Straßenbahn und die Busse fuhren nicht, selbst Fußgänger gab es nicht. Alles war still und leer. Stalin geht auf den Balkon des Kremls und ist erbost, kann aber nichts machen.

Solch süße Phantastereien spendeten mir für eine relativ lange Zeit Trost, aber mit 13 Jahren dämmerte es mir plötzlich durch Mark und Bein: Und die Armee? Sie werden doch die Armee schicken, um die Leute zur Arbeit zu jagen, und dagegen wird man nichts tun können!

Weshalb ich damals nicht an die GPU gedacht habe, weiß ich nicht, aber der Gedanke an die Armee stellte alle meine „Pläne“ auf den Kopf. Später, als wir in Parteigeschichte unterrichtet wurden, kam es mir amüsant vor, dass ich mit 13 Jahren und ein derartiges Szenario einfach theoretisch bis zu dem Punkt durchdachte, an den Lenin erst nach dem Scheitern der Revolution 1905 gelangte. Seit diesem Zeitpunkt veränderte sich die Richtung meiner Träume: Ich begann über die Gewinnung zumindest eines Teils der Armee für die Seite des Volkes, über militärische Verschwörungen und bewaffnete Aufstände nachzudenken.

Für meine seit meiner Kindheit existierende, vollkommene Aversion gegenüber der Sowjetmacht wurde selbstverständlich das Fundament in der Familie gelegt, und mit 12-13 Jahren lehnte ich diese bewusst ab, als Führungsspitze, die handelte wie sie handelte. Selbstverständlich war in diesem Alter noch nicht in der Lage, die Ideologie vollständig zu analysieren. Zu der Zeit haben mich ideologische Aspekte allgemein noch nicht berührt. Vom Staatsbürgerkundeunterricht, der uns in diesen Klassenstufen erteilt wurde (mit Beginn der 8. Klasse gab es diesen bereits nicht mehr), blieben bei mir keine Erinnerungen zurück. Ins Gedächtnis haben sich lediglich anekdotenhafte Szenen gebrannt. Dass sie uns, zum Beispiel, erzählten, dass Marx, während er höchst angespannt nachdachte, im Zimmer immer Ecke zu Ecke lief, so dass er in den Boden sogar eine Spur lief. Oder dass Marx gleichzeitig mehrere Bücher las. Damals schoss mir folgender Gedanke durch den Kopf: daher hat er, sicherlich, ein solches Durcheinander im Kopf.
Leider vermag ich nicht zu sagen, ob Teile von dem, was sie uns von oben versuchten aufzuoktroyieren meinen Verstand durchdrangen, ich war geschützt von einer anderen Weltanschauung beziehungsweise von einem überzeugten Glauben. Mir fällt es auch jetzt, während ich mich erinnere, schwer zu erklären, weshalb mir meine Eltern kein vollständiges Bild vom Christentum vermittelten. Sie waren nicht unreligiös, aber anscheinend zeichnete sie zu jener Zeit auch kein tief Glaube aus. Beide beendeten ihr Leben im tiefen Glauben, aber damals waren sie, anscheinend, nicht voll und ganz von diesem durchdrungen.

Mein Vater schrieb mir das „Vaterunser“, das „Glaubensbekenntnis“ und das „Ave Maria“ nieder, und ich lernte diese Gebete gewissenhaft auswendig. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mir diese erklärten, ich mich ebenso auch nicht daran erinnern, dass sie mit mir abends beteten. Mein Vater hat Mama und mir eine Zeit lang vorgelesen, als wir bereits im Bett lagen. Auf diese Weise lasen wir die „Ilias“ und die „Odyssee“ und nicht nur einmal unser geliebtes „Kalevala“, gelesen haben wir auch den Roman „Les Misérables“ von Victor Hugo. Während das Evangelium und andere religiöse Texte nicht gelesen wurden.

Während der Zeit der NÖP gingen meine Eltern in die Kirche, vor allem an bedeutenden Feiertagen. Ich erinnere mich daran, wie sie mich, da sie in die Osterfrühmesse aufbrechen wollten, zu Bett brachten, aber ich schlief nicht ein. Ein Lämpchen brannte bei den Ikonen, und ich schaute die ganze Zeit auf dieses, während ich auf die Rückkehr meiner Eltern wartete. Die Ikonen hingen bei uns im zweiten Zimmer. Im Schreckensjahr 1937 ergriff Mama die allgegenwärtige Angst derart, dass sie eines Tages die Ikonen abnahm und versteckte, während sie im ersten Zimmer irgendein billiges Portrait Stalins aufhing. Mein Vater ertrug dies eine Zeit lang, sagte aber dann: „Wenn Du nicht selbst diese Fresse von der Wand nimmst, werde ich sie selbst in Fetzen reißen. Und häng wieder die Ikonen auf!“ Mama entgegnete dem nichts und tat wie geheißen. Eine dieser Ikonen reiste auch bis nach Deutschland und hängt bis zum heutigen Tag über meinem Bett.

Sonntags ging ich mit meinen Eltern in die Kirche und mit sieben Jahren beichtete ich das erste Mal. Das Abendmahl empfing ich, natürlich, häufiger. Aber später mussten Pädagogen über Heldenmut verfügen, um in die Kirche zu gehen. Und auch ich konnte, als Tochter eines Lehrers, nicht in die Kirche gehen, da dies meinen Vater angreifbar gemacht hätte: Was ist das für ein Lehrer, der es nicht vermag, aus seiner Tochter eine Ungläubige zu machen? Nochmal zur Erinnerung: Meine Eltern waren damals nicht besonders heldenmütig und auch nicht bedingungslos gläubig. Mein Vater ging manchmal in die Kirche auf der Ochta, wenn er in Leningrad war, wo ihn kaum jemand erkennen würde. Mama ging manchmal auch in Pskow zur Kirche: Eine Ehefrau ist bereits ein erwachsener Mensch, diese kann man nicht immer formen, derart war die Logik der Obrigkeit, und dann wurden sämtliche Kirchen in Pskow geschlossen, so dass man nirgendwo mehr hingehen konnte.

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Einige von diesen waren begabt und in der Lage zu unterrichten. Viele verstanden jedoch mehr von Gewehren, Säbeln oder primitiven propagandistischen Phrasen, während sie außer Stande waren, „die Nase in Bücher zu stecken“. Dennoch fürchteten Pädagogen, die sich mehrheitlich aus der alten Intelligenzia zusammensetzten, diese sehr und verhalfen ihnen oftmals zu befriedigenden Noten, obgleich die Vydvizhenzy von nichts eine Ahnung hatten. Untereinander erzählten sich die Pädagogen die kuriosesten Geschichten über Prüfungsantworten der Vydvizhen.

Ein Kollege meines Vaters, ein Lehrer der russischen Sprache und Literatur, zeigte einmal einen Aufsatz eines solchen Vydvizhenez zum Thema „Historische Persönlichkeiten in der Poema Pushkins „Poltawa“. Dieser begann folgendermaßen: „In der Poema Pushkins kommen zwei historische Persönlichkeiten vor – die Persönlichkeit des Peters und die Persönlichkeit des Mazeppa. Es gab noch eine weitere historische Persönlichkeit – die Persönlichkeit des Königs Karl. Sie lebte in Schweden“. Der Verfasser behauptete, dass „Peter anordnete, Anathema aus Moskau nach Poltawa zu bringen und diese dort statt Mazeppas ertönte“ und beendete sein Aufsatz „So wurde zu Ehren Peters ein Denkmal aufgestellt, während Mazeppa begraben wurde.“ Ich vermag leider nicht zu sagen, welche Note der Student für diesen Aufsatz bekommen hat.

Mein Vater weigerte sich beharrlich, befriedigende Mathematiknoten zu geben, wenn nicht wenigstens ein Minimum an Kenntnissen vorhanden war, unabhängig davon, welchen Studenten er vor sich hatte, Vydvizhenez oder nicht.

Und jetzt kam einer dieser Vydvizhenez, der von meinem Vater systematisch unbefriedigende Noten bekam, in unsere Wohnung. Vater lud ihn ein sich zu setzen und fragte, weshalb er gekommen sei. Der Bursche gab folgende Erklärung: „Wenn Sie mir keine befriedigende Note geben, werde ich melden, dass Sie der Kommandeur eines Panzerzugs der Weißen während des Bürgerkriegs gewesen sind“. Die Lügenmär des Jungen war so plump, wie er selbst. Mein Vater war ein zutiefst unmilitärischer Mensch und hat nie irgendeine Waffe in der Hand gehalten. Als er zum ersten Mal bei der Einberufungsstelle erschien, zog er einen Nichteinberufungsbescheid hervor, und im Ersten Weltkrieg wurde er, da er Lehrer war, nicht zum Kriegsdienst einberufen. In Russland haben sich die schulischen Rahmenbedingungen so turbulent entwickelt, dass es an Lehrern aller Schulformen und Gymnasialstufen fehlte und diese sogar während des Krieges nicht eingezogen wurden. 

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Wir begingen die bedeutenden Feiertage. Zu Weihnachten stellten wir während der NÖP einen Weihnachtsbaum, der bis zur Decke reichte, im Wohnzimmer auf, und den Baumschmuck bastelten wir selbst aus verschiedenen Schachteln, stellten Bändchen aus glänzendem Papier her. Später war es möglich, Schmuck zu kaufen. Nachdem das Aufstellen von Weihnachtsbäumen verboten worden war, brachten bekannte Bauern unter dem Feuerholz versteckt uns einen kleinen Weihnachtsbaum, den wir in das zweite Wohnzimmer stellten, und die Fenster verhängten wir wie während des Krieges, damit die Kerzen nicht gesehen werden konnten. Oh, was für ein grausamer Krieg des Regimes gegen das Volk. Ab 1939 stellten wir den Weihnachtsbaum wieder sichtbar auf, im ersten Wohnzimmer, aber dieser war nicht ganz so groß wie früher. Damals wurde plötzlich ein „Neujahrsbaum“ erlaubt.

Dieser blieb, natürlich, bis Weihnachten, bis die Winterferien begannen, stehen. Die Frühlingsferien fielen größtenteils nicht mit Ostern zusammen. Den Ostersonntag gab es überhaupt nicht, aber die Sechstagewoche, und die Feiertage und arbeitsfreien Tage fielen auf verschiedene Wochentage.

Aber ich erinnere mich nicht daran, dass mir die Bedeutung der Feiertage erklärt wurde. Natürlich kannte ich diese oberflächlich aus den vielen von mir gelesenen Büchern, aber es mangelte an einer tiefer gehenden Erklärung. Mein Vater sprach manchmal über religiöse Dinge, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, all diese zu wissen. Aber für mich war es keine Selbstverständlichkeit. In der Schule wurden die Göttlichen Gebote doch nicht unterrichtet! Weshalb, habe ich nicht versucht, herauszufinden. Sicherlich hatten derartige Fragen zu dem Zeitpunkt keine große Bedeutung für mich, und noch wahrscheinlicher ist, dass ich ihre Bedeutung nicht verstanden hätte. Mein Interesse wurde später geweckt. In dem geschilderten Zeitraum (11-13 Jahre) lehnte ich lediglich die Machtelite ab, ohne mich mit der ideologischen Basis auseinanderzusetzen.

In der sechsten Klasse begann der Schulunterricht zum zweiten Turnus. Der Unterricht begann 2 Uhr nachmittags und endete 6 Uhr abends. Im Winter kehrten wir in völliger Dunkelheit nach Hause zurück. In Pskow mussten im Dezember bereits um 2 Uhr die Lichter angezündet werden, es wurde früh dunkel. Meine Eltern hätten mich lieber nach dem Unterricht abgeholt, aber ich protestierte, da mir das vor meinen Klassenkameraden peinlich war.

Fast bis nach Hause konnte mich eine meiner Klassenkameradinnen begleiten, aber nur fast, nicht weit von dem Haus, in dem wir wohnten, bog sie in eine Seitenstraße, und ich ging ein kleines Stückchen der Straße allein. An einem dieser Abende hatte ich ein Erlebnis, dass in der Psychologie wohl als „Schlüsselerlebnis“ bezeichnet würde.

In unserer Straße gab es Bande von Straßenkindern. Mit dem Begriff „Bande“ möchte ich diese nicht diskriminieren, das waren unglückselige Heranwachsende. „Unsere“ Bande hatte sich in einem Keller, im Innenhof des Nachbarhauses, eingenistet. Ich weiß nicht, wann und zu welchem Zweck dieser Keller gebaut wurde. Der Eingang zu diesem befand sich in der Mitte des Innenhofes, er grenzte nicht direkt an irgendeines der Häuser, und keiner der Bewohner benutzte ihn, die Tür ließ sich nicht schließen. Genau in diesem Keller lebte die Bande. Zwischen den Bewohnern der Straße und der Bande existierte ein ungeschriebenes Gesetz: Die Bewohner meldeten die Bande nicht der Miliz und die Bande ließ die Bewohner der Straße in Ruhe. Ich erinnere mich daran, dass ich 10 Jahre alt war, als ich gemeinsam mit dem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft beobachtete, wie die Straßenkinder eine Wodkaflasche von einem langsam fahrenden Wagen, der von Pferden gezogen wurde, stahlen. Wir standen im Tor, als eines der Straßenkinder beim Vorbeigehen drohte: „Haltet dicht, sonst…“ Ich vermag nicht zu sagen, ob diese Drohung mich erschreckte, aber mir kam auch gar nicht in den Kopf, diese Unglückseligen dafür zu melden, dass sie eine Flasche abgeschmackten Fusels geklaut hatten.

Aber kehren wir zu diesem Abend zurück. Ich hatte mich gerade von Nina verabschiedet, die in die Seitenstraße gebogen war, als ich bemerkte, dass sich in unserer Straße, vor mir, und nicht weit von unserem Haus, eine Bande von Heranwachsenden breit machte. Sie hockten rechts und links vom Bürgersteig. Einer von ihnen, anscheinend, der Älteste, bereits 17 Jahre alt, groß gewachsen und hager, stand wie ein Zaunpfahl, direkt in meinem Weg leicht versteckt von der fahlen Straßenlaterne. Ich habe damals schon lange niemanden mehr von „unserer“ Bande aus dem vorletzten Jahr gesehen und wusste nicht, ob sie überhaupt noch existierte. Jedenfalls kam mir in diesem Moment kein Gedanke an diese in den Kopf.

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Was sollte ich tun? Ich verspürte den Impuls umzudrehen und wegzulaufen, aber ich gebot mir Einhalt. Dieser hochgeschossene, langbeinige Junge hätte mich sehr schnell eingeholt, ich war doch erst 12 Jahre alt. Ja und wo wäre ich hin gelaufen? Weg vom Haus? Ich beschloss, dass ich weitergehen müsse, und setzte meinen Weg gleichen Schrittes fort, ohne schneller oder langsamer zu werden. Als ich mich der Straßenlaterne und dem Jungen näherte, der mir den Weg stand, überkam mich erneut der Wunsch, einen Schritt zur Seite zu machen und um ihn herumzulaufen, zwischen ihm und den kauernden Jugendlichen war freier Raum.

Aber ich hielt mich erneut zurück: Er stand mir doch nicht zufällig im Weg, wenn ich versuche, ihn zu umlaufen, würde er erneut meinen Weg versperren. Also ging ich direkt auf ihn zu, als stünde da niemand. Als ich in Lichtkegel der Straßenlaterne trat, sagte der Junge plötzlich: „Gehört zu uns“ – und trat zurück und ließ mich durch. Die ganze Bande erhob sich von ihren Plätzen und verschwand augenblicklich. Gleichen Schrittes, ohne schneller zu werden, ging ich weiter, gelangte nach Hause. Verstörtheit folgte nicht. Alles geschah so, wie es geschehen sollte. Zu Hause habe ich nichts erzählt.

Seltsam, ich verstand erst etwas später, dass das „unsere“ Bande war, weshalb der Junge auch „sie gehört zu uns“ sagte, das heißt Bewohnerin dieser Straße. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, was mit mir geschehen wäre, wenn dies eine „fremde“ Bande gewesen wäre. Aber später musste ich mehrmals direkt – im übertragendem Sinne des Wortes – auf ein scheinbar unüberwindbares Hindernis zugehen, und dieses wich immer zurück, verschwand, als hätte es es nicht gegeben, und ich konnte ungehindert weitergehen.
Im Sommer desselben Jahres ereignete sich eine weitere einprägsame Begebenheit. Wir verbrachten beinahe jeden Sommer auf dem Land und mieteten die nur für den Sommer geeignete Hälfte eines Bauernhauses an, da die Kolchosebauern, natürlich, kein einzeln stehenden Datschen mehr besaßen. Und in das Dorf, in dem wir den Sommer verbrachten, kam ein GPU-Mann in einem Kleinwagen und sagte, dass er meinem Vater einige Fragen stellen müsse, mein Vater müsse mit ihm in die Stadt fahren. Wir verloren alle die Fassung verlieren, weil wir fürchteten, dass mein Vater von diesem Verhör nicht mehr zurückkehren würde. Völlig fassungslos kam Mama in den Kopf, dass es gut wäre, wenn ich ihn begleiten und in der Stadtwohnung auf ihn warten würde. Wozu? Damals hatten wir ja noch kein Telefon in der Stadtwohnung, und erst recht nicht auf dem Land. Was, wenn mein Vater nicht zurückkehren würde? Ich, eine Zwölfjährige, säße allein in der Stadtwohnung, voller Angst, und Mama wäre wegen uns beiden besorgt. Aber wenn der Mensch fassungslos ist, ist er außer Stande, klar zu denken. Mama sagte dem GPU-Mann, dass ich nie in einem Kleinwagen gefahren sei und es für mich, als Kind, interessant wäre, eine Spazierfahrt zu machen, ob er nicht auch mich mitnehmen könne. Der GPU-Mann nickte mürrisch. Die Fahrt mit einem war in der Tat angenehm, aber die Seele war bleiern.

Glücklicherweise, kehrte mein Vater bald in die Stadtwohnung zurück, und wir waren sogar in der Lage, noch den Abendzug zu nehmen, so dass Mama früher beruhigt war. Bei aller Tragik der damaligen allgemeinen Situation entbehrte das Verhör meines Vaters nicht komischer Elemente. Zuerst wurde mein Vater, im Anschluss an die obligatorischen Fragen zu den persönlichen Daten, gefragt: „Haben Sie einen Orden?“ Mein Vater machte ein zerknirschtes Gesicht: „Ja, den Stanislaw, aber der wird automatisch verliehen.“ „Ich frage nach sowjetischen Orden“, erklärte der verhörende Beamte. Solche besaß mein Vater nicht.

Darauf folgte die Frage: „Saßen Sie im Gefängnis?“ Erneut antwortete mein Vater zerknirscht: „Ja, 1924, aber nur kurz, es stellte sich heraus, dass ich keiner Sache schuldig war.“ „Nein, ich dachte an ein zaristisches Gefängnis“, korrigierte abermals der GPU-Mann.

Nein, in einem zaristischen Gefängnis saß mein Vater nicht. Alles war genau andersherum: Er besaß einen zaristischen Orden, saß aber in einem sowjetischen Gefängnis. Aber dennoch wurde dies irgendwie nicht beanstandet. Sie befragten meinen Vater zu einem ehemaligen Kollegen, als er noch an der Realschule unterrichtete, einem Lehrer namens Woskresenski: war er Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre.

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Soweit mein Vater wusste, war er es, sagte aber, dass er es nicht wisse. Die zweite Frage bezog sich darauf, ob mein Vater wisse, wo sich Woskresenski jetzt befinde. Mein Vater wusste, dass er sich noch kurz vor dem Verhör in Smolensk aufgehalten hatte: Als wir dort Verwandte besuchten, trafen wir ihn zufällig mit seiner Tochter, die genauso alt war wie ich, und die er Alenuschka nannte. Mein Vater sagte mir damals, dass dies sein ehemaliger Kollege gewesen sei. Aber jetzt sagte mein Vater mit stockendem Herzen (denn plötzlich fiel ihm dieses zufällige Treffen ein), dass ihm nicht bekannt sei, wo sich dieser Mensch befinde. Das wurde akzeptiert und er entlassen. Sie werden Woskresenski wohl kaum nicht gefunden haben, was mit ihm geschah und seiner Alenuschka, vermag ich nicht zu sagen.

Wenn ich über meine Kindheit rede, sollten wenigstens ein paar Worte zu Tieren gesagt werden, welche ich immer sehr liebte. In meiner Kindheit habe ich sogar davon geträumt, mich auf irgendetwas mit Tieren zu spezialisieren. Zu Hause hatten wir Kater und Katzen.

Ich erinnere mich an einen schwarz-weißen Kater namens Mursik, der sich ausschließlich mit meinem Vater unterhielt. Mama fühlte sich sogar verletzt, immerhin fütterte sie ihn, aber er würdigte sie keiner Antwort. Ich erhob damals, als junges Mädchen, keine Ansprüche.

Aber wenn mein Vater ihn fragte: „Nun/Und, Mursik, wie geht’s Dir?“, antwortete der Kater konsequent „Miau-au-au“. Als ich älter wurde, war meine Lieblingskatze eine dreifarbige Katze namens Murka. Sie schlief bei mir auf dem Bett und später, als ich bereits zur Universität ging und in den Ferien nach Hause kam, begrüßte sie mich wie ein Hund. Zu Hunden hat es mich immer mehr hingezogen. In allen Dörfern, in denen wir den Sommer in einer Datscha verbrachten, freundete ich mich ich mich sofort mit allen Hunden an, auch mit den unglückseligen Kettenhunden. Nie hatte mir ein Hund etwas angetan. Ich hätte auch gern selbst einen Hund besessen. Mein Vater verweigerte aus irgendeinem Grund lange seine Einwilligung. Aber dann erwarteten praktisch Nachbarn von uns – sie wohnten in unserer Straße – Welpen. Das war die Familie des Landwirten Guljaew, die in einem kleinen Eigenheim mit einem kleinen Garten lebte, in welchem sich der Hausherr seinem Hobby – wie es heute heißen würde –widmete: der Zucht von Gladiolen.

In seinem kleinen Gärtchen gab es eine riesige Anzahl dieser Blumen verschiedenster Formen und Farben. Im Sommer mussten Gäste unbedingt seine „Kinder“ bestaunen und verließen ihn nicht ohne einen Riesenstrauß Gladiolen. Und diese hatten auch ein Hündchen weiblichen Geschlechts – einen weißen Spitz, und dieser erwartete Welpen. Sie boten uns einen der Welpen an und mein Vater willigte ein. Jedoch sollte es später so scheinen, dass daraus doch nichts werden würde. Es wurden lediglich drei Welpen geboren, die bereits früher jemanden versprochen wurden.

Und ich erinnere mich gut an diesen für mich herrlichen Abend, als bei uns geklingelt wurde und Frau Guljaewa eintrat, in ihren Händen ein weißer buschiger Wollball mit drei Tüpfelchen – Augen und Nase. „Hier“, sagte sie „es hat doch auch für euch gereicht“.
Das war mein Hündchen. Ich nannte es oder, genauer gesagt, ihn, Jerry – nach Buch Jack Londons „Michael, der Bruder Jerrys“. Ich habe ihn selbst erzogen und dressiert, obgleich ich lediglich acht Jahre alt war, als er mir geschenkt wurde. Ich las Durow, übernahm seine Methoden, brachte Jerry nicht nur bei, Männchen zumachen und die Pfote zu geben, sondern auch über ein Band zu springen und versteckte Gegenstände zu suchen. Mein Vater gewann diesen erzogenen Hund sehr lieb, und Jerry selbst hing neben unserer Familie noch an dem von mir bereits erwähnten Freund meines Vaters – dem Künstler Rechenmacher, der oft bei uns verkehrte. Wenn wir alle zu Hause waren und Jerry zur Tür lief und begann, mit dem Schwanz zu wedeln, wussten wir, dass der Künstler kam.

Ich hatte allgemein ein gutes Gespür für Tiere. Auf dem Dorf half ich nicht nur einmal, die Kühe und Schafe hinaus- und einzutreiben, ritt ohne Sattel, nur mit einem kleinen Schaffell, auf den friedlichen Landpferden draußen im Feld und an der Futterstelle.

Aber wir lebten in einer Zeit, in der man selbst von Tiere nicht erzählen konnte, ohne ein grässliches Thema zu berühren. Guljajew wurde, kurz nachdem er uns Jerry schenkte, verhaftet. Es war schwer, sich einen noch unpolitischeren Mann vorzustellen, wie dieser mit seinen Gladiolen. Aber auch auf ihn ergriff der schreckliche Arm des roten Terrors. Das Häuschen der Familie (sie hatten zwei Töchter) wurde konfisziert, das Gärtchen und die Gladiolen zerstört. Die Familie blieb tatsächlich in Pskow. Zu der Zeit wurde man noch nicht auf den 101. Kilometer verbannt.

Als ich in der 7. Klasse war, brach ein Unglück über Sina, die allmählich meine beste Freundin geworden war. Sina war aus einer einfachen Familie. Ihr Vater, ein russifizierter Lette, orthodoxen Glaubens, war Mitglied des kirchlichen Zwanzigerrats. Für diejenigen, die es bereits vergessen haben: Die Führungsspitze hatte erklärt, dass die Kirchen „weiterarbeiten“ dürften, für deren Erhalt sich 20 Menschen einsetzen würden. Anstatt so viele Unterschriften wie möglich zu sammeln, wurde unerfahrenerweise nach genau 20 Menschen gesucht: Hausfrauen, einfache Arbeiter. Sinas Vater arbeitete als Nachtpförtner und war nicht mehr ganz jung. Sina hatte einen älteren Bruder, ein Eisenbahnmechaniker. Aber nachdem genau zwanzig Unterschriften gesammelt worden waren, wurde einer dieser zwanzig verhaftet, so dass lediglich 19 übrig blieben, weniger also als die geforderte Zahl, und die Kirche wurde geschlossen. Alles sehr einfach.

Und ihn – den Zwanzigsten – verhafteten sie auch. Zu der Zeit war es bereits Praxis, die Familien auf den 101. Kilometer zu verbannen. Sinas Familie musste Pskow verlassen.

Nachdem wir diese Neuigkeit erfahren hatten, lief die ganze Klasse in der großen Pause (zwanzig Minuten) zu Sina. Sie wohnten unweit der Schule. In der folgenden Unterrichtsstunde nach der Pause, einer Deutschstunde, weinte die gesamte Klasse. Unsere Lehrerin, eine in Pskow lebende Deutsche namens Dora Leopoldowna, wusste nicht, was sie machen sollte. Sie fühlte, natürlich, mit uns, fürchtete aber, dies zu zeigen. Befangen druckste sie herum, ohne zu wissen, wie sie uns beruhigen und den Unterricht beginnen sollte. Schließlich beruhigte sich die Klasse und der Unterricht nahm seinen normalen Lauf.

Der Familie wurde für die Vorbereitung der Abreise etwas Zeit gegeben. Die Mutter und der bereits verheiratete Bruder Sinas verkauften das Haus, die Kuh, einige Sachen, den Rest packten sie für die Abreise. Sina ging in diesen Tagen noch zur Schule. Sie bat uns, ihr zur Erinnerung etwas in ein Album zu schreiben. Alle Schüler und Schülerinnen schrieben etwas in das Album, aber die Lehrer lehnten ab, sie hatten Angst, wofür sie unvernünftigerweise ein wenig verachteten. Lediglich unsere Biologie- und Chemielehrerin, Jelena Alexandrowna Dressen, schrieb etwas ins Album. Wir konnten damals ihren Mut nicht beurteilen. Dora Leopoldowna schrieb auch etwas, aber nicht ins Album, sondern auf eine einzelne Postkarte und in deutscher Sprache. Sina verstand bei weitem nicht alles, und auch ich, die ich die deutsche Sprache damals viel besser verstand, konnte nicht alles verstehen oder die Handschrift unserer Lehrerin entziffern, ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls gingen Sina und ich in der Pause zu Dora Leopoldowna und baten sie, uns zu bei der Übersetzung behilflich zu sein. Aber sie war uns nicht behilflich. Stattdessen stammelte sie mit erschrockenem Gesicht: „Ach ja, ihr versteht ja nicht“, und riss buchstäblich die für Sina beschriebene Postkarte aus ihren Händen, ließ sie verschwinden und lief eiligen Schrittes davon. Sie bereute offensichtlich, dass sie die Karte geschrieben hatte, Angst ergriff sie.

Nicht ihr sollte die Schuld gegeben werden, sondern dem Regime, das gute Menschen und mildherzige Lehrer zu einem solchen Anfall von Angst verleitet hatte.

Je näher der Tag der Abreise von Sinas Familie rückte, desto stärker wuchs in mir die Überzeugung, dass sie nicht abreisen würden. Ich war bereits 13 Jahre alt und verstand sehr gut, dass kein Grund für Hoffnung existierte. Rational begriff ich das natürlich, jedoch gegen jede Vernunft wuchs in meiner Seele die vollkommene Überzeugung, dass das nicht wahr sein könne. Diese Überzeugung, ich würde sagen, dieses irgendwie irrationale Wissen, war dermaßen stark und klar, dass ich nicht trauern konnte. Als diejenigen Schüler und Schülerinnen, die Sina am nächsten standen, sich am letzten Tag vor der Abreise von ihr verabschiedeten, weinten viele. Katja, die engste Freundin Sinas, die später auch meine engste Freundin wurde, schluchzte hemmungslos, während ich keine Träne vergoss. Ich war beschämt, gefühllos zu wirken, aber wie hätte ich weinen sollen, wenn ich doch wusste, dass Sina nicht abreisen würde?

 

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Am nächsten Tag bekam ich eine meiner gewöhnlichen Erkältungen. Ich hatte Fieber und meine fürsorglichen Eltern ließen mich nicht in die Schule. Nach dem Mittagessen läutete es, Mama ging, um zu öffnen, und ich hörte ihren freudigen Aufschrei. Ich wusste bereits, wer gekommen war. In das Zimmer kamen Katja und Sina. Es erstaunte mich nicht, sagte lediglich: „Ich wusste, dass Du nicht abreisen würdest“.

Durch irgendein Wunder wurde Sinas Vater entlassen, der Familie erlaubt zu bleiben.

Die Leute, die das Haus gekauft hatten, erwiesen sich als fair und gaben es zurück. Sie ließen sich erneut am alten Ort nieder und lebten wie zuvor. Wie sich in der Zukunft zeigte, war dies ein verhängnisvoller Fehler.

Vorerst verlief das Leben erneut in seinen gewohnten Bahnen. Das Versinken des gesamten Landes in Dunkelheit setzte sich fort, aber meine unmittelbare Umgebung wurde fürs Erste unberührt gelassen. Ich erinnere mich daran, dass nach dem Mord an Kirow in jeder Zeitungsausgabe lange Listen der Erschossenen veröffentlicht wurden (später verzichtete Stalin darauf, Listen der Opfer zu publizieren, es wurden einfach zu viele), mein Vater machte ein finsteres Gesicht, wenn er morgens die Zeitung öffnete. Sein Gesicht wurde von einem dunklen Schatten überzogen, aber er sagte nichts.

Meine Erkältungen nahmen indessen ein solches Ausmaß an, dass die Ärzte darauf bestanden, dass ich bis Ende des Jahres von der Schule genommen werde und die 7. Klasse später wiederhole, ich sei doch die Jüngste in der Klasse. Aber ich protestierte. Nun hatte ich Freundinnen in der Klasse und wollte nicht die Klasse wechseln. Wir gingen einen Kompromiss ein: Ich wurde für drei Monate von meinen schulischen Verpflichtungen zur Stärkung meiner Gesundheit entbunden. Das waren prächtige Wintermonate. Ich war die ganze Zeit an der frischen Luft, fuhr Schlitten, Ski, manchmal wälzte ich mich im Schnee … und ich erkältete mich nicht ein einziges Mal! Aber kaum ging ich in die Schule, begann alles von vorn. Nichtsdestotrotz lohnte es sich nicht für mich, das in den drei Monaten Verpasste nachzuholen und ich beendete die siebte Klasse gewohntermaßen, mit Belobigungen. Mit der achten Klasse begann in vielerlei Hinsicht ein anderes Kapitel meiner Schullaufbahn.

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         Die achte Klasse

Der Übergang von der siebten zur achten Klasse war gekennzeichnet von verschiedenen Veränderungen. Viele der Mitschüler und Mitschülerinnen wechselten: einige ans Technikum, andere an die sanitäts-gynokologische Schule oder besuchten Schreibmaschinenkurse, wiederum andere verließen uns einfach, um zu arbeiten. Wir schrieben uns gegenseitig zur Erinnerung ins Album – Alben waren auch in sowjetischen Schulen noch üblich. Mein Album blieb nicht erhalten, wie auch bei so vielen Fluchten? Ich bedauerte lediglich den Weggang einer Mitschülerin, meiner Namensschwester Vera. Sie wollte weiterhin zur Schule gehen, aber die familiären Umstände ließen es nicht zu.

Wir waren nicht sehr eng befreundet, uns verband lediglich die Liebe zur Poesie Lermantows. Sie wohnte ein wenig weiter von Schule weg als ich, und manchmal begleiteten wir uns gegenseitig auf dem Heimweg, das heißt ich ging ein wenig weiter als bis zu dem Haus, in dem wir lebten, danach kehrte sie mit mir zurück. Ich erinnere mich an einen Wintertag, an dem es ein Schneegestöber gab.

Der Wind wirbelte Schnee in unsere Münder und das Reden fiel schwer, aber wir begleiteten uns trotzdem gegenseitig mehrere Male und trotz des Schneegestöbers rezitierten wir einander abwechselnd Lermantow.

Später traf ich Vera noch einmal zufällig. Sie wurde, leider, zu einer typischen sowjetischen Beamtin. Die sowjetische Bürokratie schliff einen bestimmten Typ ihr ergebener Menschen. Sie mussten nicht einmal politisch sein, und dennoch stumpften sie innerlich ab, das sowjetische Regime berührte sie nicht mehr unangenehm. Vera hätte ein intelligenter Mensch werden können, wenn sie weiter zur Schule gegangen wäre, aber der sowjetischen Bürokratie vermochte sie nichts entgegenzusetzen.

In unsere Klasse kamen neue Schüler und Schülerinnen: ein Teil aus der anderen Eisenbahnschule, da diese eine Schule mit sieben Klassenstufen, ein Teil sogar von Schulen, die weit weg gelegen waren. Unter den letzteren war Inna, die Tochter des Geistlichen, der mich getauft hatte. Meine Eltern hätten es gern gesehen, wenn ich mich mit ihr anfreundet hätte, aber sie versuchten zu keiner Zeit Druck hinsichtlich der Wahl meiner Freunde auszuüben, was sowieso aussichtslos gewesen wäre.

Eine Freundschaft zu Inna entwickelte sich leider nicht. Es lag, selbstverständlich, nicht an ihrer Herkunft, für mich spielte diese keine Rolle, und allgemein hatte niemand in der Klasse eine schlechte Beziehung zu Inna. Wir besaßen, anscheinend, einfach unterschiedliche Charaktere. Eine Freundschaft entstand mit einem anderen neuen Mädchen, die von der zweiten Eisenbahnschule zu uns wechselte. Walja, wie sie genannt wurde – war eine Weißrussin, lebte aber bereits einige Jahre in Pskow, wohin ihr Vater versetzt wurde, ein Eisenbahnbaumeister. Sie russische Sprache beherrschte sie zur perfekt, war allgemein sprach- und literaturbegabt, rezitierte mir Gedichte von Jessenin, den ich bis zu der Zeit wenig kannte, und sprach sogar über Marina Zwetajewa, die sie für eine geniale Dichterin hielt. Woher sie von ihr erfahren hatte, weiß ich nicht, wir, die übrigen, hatten von Marina Zwetajewa zu der Zeit nichts gehört.

In der 8.Klasse fühlten wir uns irgendwie auf einmal beinahe erwachsen. Die Lehrer fingen an, uns mit „Sie“ anzusprechen. Selbst unser Klassenlehrer seit der 5. Klasse, Wassili Alexeewitsch Grinin, sah uns an, schüttelte den Kopf und sagte: „Jetzt seid ihr schon groß, jetzt müsst ihr mit „Sie“ angesprochen werden“. Wir kamen zu der Zeit in die Pubertät. Hier im Westen gilt diese Zeit, als diejenige, in der die Jungen beginnen, sich für Mädchen zu interessieren, und die Mädchen für Jungen; überdies beginnen beide Geschlechter, Erwachsenen gegenüber respektlos zu werden, insbesondere gegenüber den eigenen Eltern. Aber wir waren damals noch weit davon entfernt. Für uns war es die Zeit der Persönlichkeitswerdung. Wir besprachen und diskutierten, was gut, was schlecht war, waren eifrig bestrebt, die Grundfesten von Ethik und Tugend zu finden, die uns in der Schule niemand lehrte. Zufällig habe ich lange Zeit eine Notiz Katjas aus dieser Zeit erhalten: „Vera, ich vergebe viel zu schnell Kränkungen, ist das schlecht oder gut? Einerseits zeugt dies von der Güte des Charakters, andererseits von einem Mangel an Selbstliebe“. Selbstliebe hatte bei uns einen hohen Stellenwert, aber wir fassten diese nicht als Hochmut, sondern als Selbstachtung auf.

Die negativen Seiten der Selbstliebe haben wir damals nicht gesehen. Wir stritten viel über Willensstärke: welche Rolle sie spielte, was ist im Leben stärker: die Kontextbedingungen oder der eigene Wille, der eigene Charakter? In all diesen Argumentationen fand sich viel Kindliches, aber auch eine gewisse Reife war bereits spürbar.

Mich persönlich plagte über einen langen Zeitraum das Problem der Dankbarkeit. Wie oft kommt es im Leben vor, dass irgendeine Nebensächlichkeit einen ganze Reihe von inneren Erschütterungen nach sich zieht? In der 7. Klasse hatten wir keine normalen Schulbänke, sondern, im Grunde genommen, für jüngere Schüler ungeeignete Tische, die für jeweils drei Personen ausgelegt waren. Zum Ende des Schuljahres existierte bereits ein starkes Triumvirat: Sina, Katja und ich. Wir beschlossen, uns an einen dieser Tische zu setzen. Aber als ich, wie gewöhnlich als eine der Letzten, in die neue Klasse kam, bemerkte ich, dass dort normale Zweierbänke standen.

Sina und Katja saßen bereits an dieser Schulbank und zeigten auf die hinter ihnen, an der sie mir einen Platz freigehalten hatten. Zuerst war ich ziemlich enttäuscht, aber daran ließ sich nichts ändern. Kurz darauf trat eine Klassenkameradin, Lida, an mich heran und fragte, ob sie sich neben mich setzen könne. Ich willigte ein. Und Gesprächsfetzen oder unendlich viele Zettel flogen in langweiligen Unterrichtsstunden zwischen uns dreien hin und her. Lida war mehr oder weniger außen vor, und sie interessierte sich auch nicht für unsere Probleme. Bald erkrankte ich an Diphtherie, meine letzte Kinderkrankheit. Es heißt, je älter das Kind – ich war 14 Jahre alt – desto schwerer ist der Verlauf der Kinderkrankheit, aber meine Diphtherie verlief sehr milde, kaum Fieber, die Kehle schmerzte leicht. Allerdings musste ich ins Krankenhaus, da dies für Ansteckungskrankheiten vorgeschrieben war.

Das Krankenhaus war jedoch am anderen Ende der Stadt, voll und ganz tadellos , aber mir war langweilig. Bücher mitzubringen, war verboten, oder sie mussten dort bleiben, sie waren schwer zu desinfizieren. Als Ventil erwies sich eine im gleichen Zimmer liegende junge Frau. Sie war nicht krank, sondern lag bei ihrer kranken anderthalbjährigen Tochter, einem reizenden jungen Mädchen…

In Deutschland wurde in den 70-ger und 80-ger Jahren viel darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, die Mütter zu ihren kranken Kindern zu lassen, da es die Genesung fördere. Nach alter russischer Tradition war dies zu meiner Zeit in der UdSSR eine Selbstverständlichkeit.

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Natürlich wurde auch die Mutter auch im Krankenhaus isoliert. Uns zu besuchen, war verboten, man durfte lediglich draußen, hinter einer Glastür, in Wind und Kälte stehen und sich gegenseitig Zeichen geben. Übrigens stellte sich heraus, dass es unter der Tür eine Ritze gab, es war eine Doppeltür, als Kranke ging ich nicht an die Außentür, von der es vor Kälte zog, aber die junge Mutter war ziemlich unvernünftig, so dass sie meinen Freundinnen und mir als Briefträger diente: sie überreichte durch die Ritze meine Zettelchen und brachte mir die meiner Freundinnen. Später erkrankte Mila an Diphtherie, nachdem sie mich einmal besucht hatte, aber auch an der leichten Form, und ihre Tanten, die als Lehrerinnen arbeiteten und bei denen sie lebte, gaben wegen der Briefchen mir die Schuld.

Darüber hinaus unterhielten die junge Frau und ich uns, spielten unglaublich oft Karten und blieben im Krankenhaus. Insgesamt war alles sehr gemütlich. Wenn wir uns bis spät in die Nacht unterhalten hatten, haben uns die Schwestern morgens nicht geweckt. Außer uns war niemand in dem kleinen Krankenhauszimmer.

Und dann beschloss Lida, dass es ihre Verpflichtung sei, mich jeden Tag zu besuchen, was ihr schwer fiel, und ich überhaupt nicht gebrauchen konnte. Ich war insgesamt zwei Wochen im Krankenhaus, und zwei Wochen musste ich noch zu Hause verbringen. Erneut besuchte mich Lida häufig. Indem sie diese unnötige Ruhmestat vollbrachte, machte Lida ihre Rechte an mir geltend. Ich sollte zu ihrer exklusive Freundin werden. Mich hat das aufs höchste belastet, und fürchtete undankbar zu erscheinen. Zu der Zeit machte ich mir viele Gedanken über das Problem der Dankbarkeit und begriff, dass niemand das Recht hat, einen anderen Menschen zu knechten, unabhängig davon, welchen Dienst er diesem erwiesen hatte.

Eine andere Sache ist es, dass derjenige, dem ein Dienst erwiesen wurde, seinerseits dem anderen helfen sollte, sollte dieser in Not geraten, aber er ist nicht verpflichtet, sich selbst oder seine Interessen zu vergewaltigen. Dies mag als eine Selbstverständlichkeit erscheinen, aber damals benötigte dieses Verständnis viel Nachdenken und eine Menge innerer Auseinandersetzungen. Nachdem ich schließlich bemerkt hatte, dass wir so gut wie keine gemeinsamen Interessen hatten, fand Lida eine andere Freundin und setzte sich an eine andere Schulbank. Zu mir setzte sich bald Walja. So kam alles in Ordnung und unser Vierergespann blieb bis zum Ende der Schulzeit befreundet.

In der 8. Klasse erschienen nicht nur neue Schüler, sondern auch neue Lehrer. So erhielten wir zum ersten Mal einen richtigen Geschichtslehrer. Pawel Semjonowitsch Wosnezenski war ein nicht mehr junger Mann, vorrevolutionärer Bildung und, natürlich, war er kein Kommunist. Er unterrichtete Geschichte und Geografie, war didaktisch sehr gut und insgesamt ein starke Persönlichkeit, die es verstand, auf die Klasse einzuwirken. Während seines Unterrichts war es still, und unsere Zettelchen flogen nicht von Schulbank zu Schulbank.

Er war der erste Lehrer, den wir beinahe gottgleich verehrten. Dass Pawel Semjonowitsch in der Seele kein Kommunist war, haben wir schnell erkannt. Ich greife voraus, indem sage ich, dass er uns in der 10. Klasse, in welcher wir Unterricht in Parteigeschichte bekommen sollten, nicht unterrichtete. Man sagte, dass er von selbst abgelehnt habe, indem er sagte, dass er die Parteigeschichte nicht so kenne, wie es angemessen wäre. Ob das in derart schrecklichen Zeiten möglich war, weiß ich nicht, in jedem Fall war er in der 8. und 9. Klasse unser Lehrer. Jedoch hatte dieser wissende Geschichtslehrer, seiner eigenen inneren Seelenlage nach explizit kein Bolschewik, nicht nur positiven Einfluss auf uns. In der achten Klasse kauten und wiederkäuten wir die französische Revolution von 1789.

Ob Pawel Semjonowitsch ein Liberaler alten Schlags war, der in dieser Revolution noch immer die Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ suchte, während er den bösartigen Nachtrag „oder Tod“ vergaß, oder ob er einfach als guter Pädagoge nicht anders konnte, als farbig das zu beschreiben, was er unterrichtete, aber so oder so, er vermochte für eine kurze Zeit uns für diese Revolution zu begeistern, und diese kurze Begeisterung erschreckte sich über einen romantischen Deckmantel auch auf unsere grauenvolle Revolution.

Der Marxismus vermochte zu keiner Zeit und bei keinen Bedingungen mich zu interessieren, noch weniger zu begeistern, aber die Romantik der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vernebelte für kurze Zeit den Blick und verdeckte mit ihrer schillernden Hülle nicht nur das unansehnliche wirkliche Antlitz jener Revolution, sondern teilweise auch das der unsrigen.

Der unbeliebteste unter unseren Lehrern war ein Mathematiklehrer, der Deutschrusse Alfred Alfredowitsch Krieger, ein hochgewachsener, schlanker, irgendwie rötlich wirkender Mann mit blassrosa Gesichtsfarbe, roten Haaren und großem roten Schnurrbart mit nach oben gedrehten Enden a lá Wilhelm II. Wegen der roten Haare und des Schnurrbarts bekam er von uns den Spitznamen Tarakan. Das war der einzige Spitzname, der einem der Lehrer von uns während der gesamten Schulzeit gegeben wurde. Wir mochten ihn basierend auf vollkommen objektive Gründe nicht: er war ein gänzlich schwacher Pädagoge. Er war überhaupt nicht in der Lage, Sachverhalte zu erklären. Er schrieb oder zeichnete irgendetwas an die Tafel, murmelte irgendetwas in seinen Bart, und keiner der Schüler verstand etwas. Er unterrichtete bei uns bereits in der 7. Klasse, und von der Schule wurde ich ich damals gebeten, ehrenamtlich den Schülern Nachhilfe zu geben, die in Mathematik hinterherhinkten.

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Zu dieser Zeit zeigte sich meine erste Begeisterung für das Theater. In Pskow existierte kein festes Theater, Theatergruppen aus Leningrad gastierten bei uns, jedoch nicht die besten. Aber genau in diesem Jahr gastierte ein Theater aus Petrosawodsk bei uns. Ich wollte zuerst nicht hingehen: Nun, was sollte aus Petrosawodsk kommen? Später ging ich doch eines Tages und war mehr als erstaunt, solch gute Schauspieler hatte ich noch nie gesehen. Ich begann, in jedes Stück zu gehen. Ich bin meinen Eltern äußerst dankbar, dass sie mich gewähren ließen, obgleich ich nicht mit Freundinnen, sondern allein ging, lediglich mein Vater traf sich mit mir nach den Abendvorstellungen, um mich nach Hause zu begleiten. Natürlich gingen auch meine Eltern ins Theater, aber derart große Theaterliebhaber waren sie bereits nicht mehr.

Das Theater aus Petrosawodsk führte Klassiker auf, russische und französische, und von den neuesten Stücken diejenigen, die frei von Propaganda waren. Mich erstaunte ihre schauspielerische Glanzleistung, ich begann vorsichtig Informationen einzuholen, und es gelang mir, zu erfahren, dass die Gruppe zum größten Teil aus Leningrader und Moskauer Schauspielern bestand, die sich in Gefahr befanden und vorzogen, sich in der Provinz zu verstecken, wo sie sich nicht direkt vor der Nase des zentralen NKWDs befanden. Ich begriff, weshalb sie so gut spielten.

Das Durchschnittsalter meiner Mitschüler und Mitschülerinnen war in der 8. Klasse fünfzehn Jahre, einige waren bereits sechzehn, nur ich war lediglich vierzehn Jahre alt. Mit 15 Jahren konnte man dem Komsomol beitreten und, natürlich, wurde in unserer Klasse eine Aktion für den Komsomolbeitritt organisiert. Die Mehrheit, aber nicht alle, traten dem Komsomol bei. Ich wurde aufgrund meines Alters vorerst außer Acht gelassen. Dem Komsomol traten alle drei meiner Freundinnen bei. Waren sie überzeugte Kommunisten? Glaubten sie an die sowjetische Führungsspitze? Wir haben zu keinen Zeitpunkt direkt darüber gesprochen.

Ungeachtet der sehr engen Freundschaft, unterlag ich persönlich für mein Empfinden nach wie vor dem Gebots, das mich für meine Eltern verantwortlich zeichnete. Ich hatte beschlossen, nicht offen über Politik zu reden, auch nicht mit meinen engsten Freundinnen. Aber wenn sie tatsächlich überzeugte Kommunisten waren oder an den Marxismus glaubten, sofern sie in der Lage waren diesen in ihren Alter zu begreifen, warum sollten sie mich dann nicht auf diese Themen ansprechen? Und hätte ich mich mit passionierten, echten Komsomolzinnen anfreunden können? Auf keinen Fall! Ich erinnere mich daran, wie Sina, die älteste von uns, einmal sagte, dass wenn im Falle einer Verschärfung innerer Widerstände innerhalb des Systems, diese durch einen Ruck, sprich durch eine Revolution gelöst würden, es dann nicht an der Zeit für eine Revolution durch uns sei? Jedoch gab es zu diesem Thema keine weiteren Gespräche.

Weshalb sie dann dem Komsomol beitraten? Um Karriere zu machen? Nein, wir waren damals Idealisten, an das praktische Leben haben wir irgendwie keinen Gedanken verschwendet, auch nicht an die Karriere. Ich denke, etwas anderes spielte eine Rolle. Ich habe mir oftmals Gedanken über die schwierige Situation von von Natur aus engagierten Menschen, insbesondere der Jugend, in totalitären Regimen gemacht. In einer freien Welt können junge, engagierte Menschen zu den Pfadfindern gehen, in die eine oder andere kirchliche Jugendorganisation, in Abhängigkeit von ihrer Religionszugehörigkeit, und wenn sie älter sind und politisches Interesse haben, in Jugendverbände der einen oder anderen Partei. In der UdSSR war all dies unmöglich. Und ich war von Natur aus engagiert, und für mich war es, beispielsweise, spannend mich mit den unteren Jahrgängen mit Mathematik auseinanderzusetzen, später unterrichtete ich in den unteren, das heißt half denjenigen, die zurückblieben, auch wenn das beinahe die gesamte Klasse war.

Das konnte ich auch tun, ohne Komsomolzin zu sein, aber das war auch alles. Ich wäre bereitwillig in die Ferienlager für Kinder gefahren, aber die Lager waren uneingeschränkt Pionierlager, und die älteren Schüler und Schülerinnen, die den erwachsenen Lehrern im Lager halfen, war ausschließlich Komsomolzen.

Wie ich bereits erzählt hatte, ergriff uns zu dieser Zeit ein gewisser Aktivismus innerhalb der Schule. Und für mich kam dies zuvorderst. Abstrakte Träume über den Sturz der Sowjetmacht und der Umgestaltung des gesamten Landes traten angesichts „kleiner Probleme“ zurück, Engagement innerhalb der Schule, der Wunsch das zu verbessern, was man verbessern konnte, vor Ort. Dieses Engagement, denke ich, führte meine Freundinnen auch in den Komsomol. Aber wir, ich sage es nochmal, sprachen darüber nicht miteinander. Ich bestand nicht auf Erklärungen ihrerseits, genauer, ich fragte überhaupt nicht nach, sie erklärten nichts. Über Politik und über Ideologie sprachen wir fast gar nicht. Aber politische Anekdoten erzählten wir einander dennoch, darunter sehr bissige. Ich kannte zu der Zeit viele politische Anekdoten, sie flogen mir regelrecht zu. Wer mir die eine oder andere Anekdote erzählte, erinnere ich mich nicht mehr, im Gedächtnis blieb lediglich, dass Sina mir folgende Anekdote erzählte: Irgendwann begann Stalin darüber nachzudenken, ob es nicht angebracht wäre, trotz allem das Volk irgendwie zu erfreuen, aber ohne großen Aufwand für den Staat ist.

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Plötzlich erschien ihm irgendein unbekannter Mensch und sagte: „Gib mir Dein Wort, dass Du mich nicht hinrichten wirst, wenn ich Dir beibringe, was zu tun ist, um das Volk ohne staatlichen Aufwand zu erfreuen.“ Stalin gab sein Versprechen. Daraufhin zog der Mensch aus seiner Tasche einen dicken Strick, gab diesen Stalin und sagte: „Hier, häng Dich mit diesem Strick auf und das Volk wird eine Mordsfreude haben, und für den Staat entstehen keine Kosten, ganz im Gegenteil“. Mir gefiel die Anekdote, die nach dem Tod Maxim Gorkis, als russische Städte über und über nach ihm benannt wurden, erzählt wurde. Irgendein Professor schlug vor, unsere gesamte Epoche zu Ehren Maxim Gorkis als „maximalst bitter“ zu bezeichnen. Genau in diesem Jahr schrieb ich mir, ich schrieb es wirklich auf und erinnerte mich nicht nur daran, einen wunderschönen Satz aus dem Prolog von „Ruslan und Ljudmila“ ins Heft:

Am Meerestrand die Eiche ist gefällt,
Die goldene Kette ins Torgsin geschafft,
Der Kater zu Bouletten gemetzelt
Die Meerjungfrau des Passes beraubt
Und der Waldgeist nach Solowki verbannt.
Aus den Hühnerbeinchen eine Suppe gekocht,
In der Hütte drei Familien angesiedelt.
Dort gibt es keine wilden Tiere, dort sind Menschen im Käfig,
Über dem Käfig brennt ein Stern,
Über die Errungenschaften des Fünfjahresplans,
Erzählt ihnen Stalin ein Märchen.

In diesem Abschnitt meines Lebens begannen auch die ersten Reflexionen über den Sinn des Lebens. Ringsherum war alles misslich und sogar schrecklich, obgleich das Ende 1935 und der Beginn des Jahres 1936 eine Atempause gewährten. Oder ich bemerkte, da ich mit anderen Problemen beschäftigt war, nicht so sehr, was um mich herum vor sich ging. Die Schauprozesse gegen alte Bolschewisten berührten innerlich niemanden in unserer Familie: Sie haben sich ihre eigene Schlinge geknüpft. Der Tod der Bauern, die Inhaftierung einfacher Menschen, die unschuldig waren, waren schrecklich, aber den alten Bolschewiken geschah recht. Dennoch war alles um uns herum traurig und grausam. Wie sollte man leben?

Wo ist der innere Ausweg? Wie sollte ich darüber mit meinen Eltern sprechen! Das war nicht möglich, weshalb, fällt mir sogar jetzt schwer zu sagen. Meine Mutter hätte all diese Fragen nach dem Sinn des Lebens für Flausen gehalten, während mein Vater diese vielleicht verstanden hätte, aber er äußerte sich nicht. Dies konnte nicht mit der Angst davor, frei zu sprechen, begründet werden. Wir sprachen innerhalb der Familie immer vollkommen offen miteinander, auch über viel gefährlichere politische Themen. So äußerte mein Vater nicht selten sein Bedauern darüber, dass zur Zeit der Revolution Nikolaus II und nicht Nikolaus I an der Macht gewesen war. „Er hätte dem Thron nicht entsagt“, sprach mein Vater „sondern hätte sich an die Spitze des Heeres gestellt und sie alle auseinander getrieben“. Und in meiner Seele regte sich zu dieser Zeit eine gewisse Scham in Bezug auf den letzten Regenten.

Er hatte dermaßen schnell und leicht auf seinen Thron verzichtet und uns alle, damals noch nicht Geborene, der Willkür dieser schrecklichen Menschen überlassen. Es lag überhaupt nicht in meiner Natur, kampflos aufzugeben. Er hätte kämpfen müssen, dachte ich, wenn er im Kampf gestorben wäre, dann wäre es Schicksal gewesen, aber er hätte wenigstens kämpfen müssen. Mag sein, dass in seiner passiven Akzeptanz eines Martyriums ein tieferer Sinn.

Damals vermochte ich diesen, auf keinen Fall zu fassen. Zu der Zeit habe ich auch sehr deutlich gespürt, dass über mir, wie auch über uns allen, eine riesige, künstliche, schreckliche Propagandamaschine hing, die uns alle innerlich umformen wollte. Meine Eltern, die 38 Jahre alt waren, als die Revolution geschehen war, konnten anscheinend nicht begreifen, was diese Propagandamaschine für einen heranwachsenden Menschen, der zur Hälfte noch Kind war, bedeutete. Sie waren durchweg gefestigte Menschen, fürchteten lediglich äußere Kräfte, die sie physisch ins Unglück stürzen konnten, hatten jedoch keine Angst davor, innerlich vergeformt zu werden.

Ich jedoch begann, diese Kraft als solche zu verstehen. Sie schnürte meine Seele ein. Nebenbei bemerkt, hing die Tatsache, dass mein Vater nicht die geringste innere Angst wahrnahm, von seinem starken Charakter und seiner ganzheitlichen Natur ab. Ich habe bereits damals nicht wenige innerlich zerbrochene Intellektuelle gesehen, überrumpelt, im Bann dieser riesigen Kraft und vor dieser nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich gebeugt. Bedeutend später, bereits im Exil, las ich bei dem Polen Milosch darüber, wie ein Teil der polnischen Intelligenz die Waffen streckte, innerlich zusammenbrach. Der Gedankengang war folgender: Wenn diese Kraft siegen sollte, bedeutet dies, dass das ein historischer Verlauf ist, und gegen den Geschichtsverlauf aufzubegehren, ist unmöglich. Ich habe mit einem Gefühl der Ironie die Gedichte Brjussows gelesen, der die russische Intelligenz fragte, weshalb sie erstaunt sei, habe sie dies alles nicht gewollt, nicht jahrzehntelang dafür gekämpft? Und in der Tat haben viele russische Intellektuelle nicht erwartet, dass ihr Wirken, dass sie selbst als Aussaat des „Rationellen, Guten, Ewigen“ verstanden, derartige Resultate hervorbringen würde. Ihre Ideale, denen sie ihr ganzen Leben verschrieben hatten, verwandelten sich vor ihren Augen in eine schrecklich Fratze und sie hatten nichts, womit sie diesem nicht nur äußerlichen, sondern auch innerlichen Desaster entgegentreten konnten.

Das alles wird treffend von S. Frank in „Häresie des Utopismus“, „Untergang der Idole“ und in anderen Texten von ihm sowie auch anderer Autoren beschrieben. Aber dies war mir damals nicht zugänglich. Jedoch verspürte ich einen innerlichen Wurmfraß innerhalb des bedeutenden Teils der russischen Intelligenz, eine gewisse innere Fäulnis, die diesen Teil zwang, gerade innerlich zu kapitulieren. Ich fragte mich, ob die Kommunisten diesbezüglich Recht hatten, wenn sie von der Zermürbung der Intelligenz sprachen.

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Ich weiß nicht, weshalb ausgerechnet einer der typischen sowjetischen Propagandafilme über den Bürgerkrieg, „Freundinnen“, die Erkenntnis in mir wach rief, dass die intellektuelle Zermübtheit auch in mir selbst vorhanden war. Ich dachte mit Schrecken, dass ich nicht gefeilt sei gegen eine innere Kapitulation unter dem Druck der kommunistischen Propaganda. Ich kann mich auch jetzt noch daran erinnern, wie ich an meinem kleinen Schreibtisch, genauer dem mir als Schreibtisch dienenden einfachen kleinen Tisch saß und mir gelobte, dass mich diese Propaganda nicht beugen würde. Selbst wenn ich zu dem Schluss kommen sollte, dass die kommunistischen Ideen wahr seien, musste ich dies selbst, frei, innerlich frei, und nicht unter dem Druck der Propaganda tun. Von diesem Augenblick an begann ich, bewusst meine innere Standfestigkeit und Selbstständigkeit zu schulen. Nach drei Jahren, an die 17 Jahre, kam ich zu dem Schluss, dass ich meine innere Schulung erfolgreich abgeschlossen habe.
In dieses höchst bedeutsame Entwicklungsjahr meiner frühen Jugend fiel auch ein familiäres Ereignis, das mich veranlasste, über Treue und Vertrauen zwischen Ehepartnern, über ihre Beziehung zueinander nachzudenken. Mein Bruder beschloss, sich von seiner Frau scheiden zu lassen.

Er hat sich als Einsenbahningenieur nach Abschluss der Universität in Leningrad niedergelassen. Verheiratet war er, wie ich bereits erwähnt habe, mit Vera Petrowna Atlantowaja, einer Sängerin. In der Familie wurde sie von allen geliebt. Sie war eine liebreizende, kultivierte und charmante Frau, obgleich ihr Gesicht, wie bei allen vitalen Menschen, bisweilen schön und bisweilen fast hässlich war, was von jenem innerlichen Licht abhing, das Tolstoj in Bezug auf Natascha Rostowa beschrieben hatte. Sie hatten einen Sohn, Igor, ein ebenso liebreizender Junge. Alles war in Ordnung, solange mein Bruder eine Stellung in Leningrad hatte. Und dann kam ein neuer Befehl: junge Ingenieure an die Gleise. Mein Bruder wurde nach Staraja Russa versetzt, aber seine Frau wollte nicht dorthin umziehen, weil sie die Vervollkommnung ihrer Stimme vorantreiben wollte, und in Staraja Russa kaum ein qualifizierter Gesangslehrer zu finden war.

Ich sage nicht, dass Vera Petrowna im Recht war: eine Familie hat es schwer, wenn sie räumlich getrennt ist, aber wir alle, mein Vater und all meine Schwestern glaubten, dass auch mein Bruder ein Einsehen und Geduld hätte haben müsse. Lediglich meine Mama rechtfertigte ihren einzigen noch am Leben gebliebenen Sohn. So oder so, mein Bruder wartete ein Jahr und trennte sich danach von seiner Frau.

Zu der Zeit hatte er bereits eine neue Verlobte. Es mag seltsam erscheinen, aber er wählte kein junges Mädchen, obgleich auch Frauen, die viel jünger waren als er, für ihn schwärmten. Seine neue Frau, Lidija Alexandrowna, war seines Alters, eine Witwe mit zwei Töchtern, die älteste von ihnen in meinem Alter. Mit dieser habe ich mich schnell angefreundet. Äußerlich besaßen Lidija Alexandrowna und Vera Petrowna Ähnlichkeiten, beide waren dunkelhaarig und hatten dunkle Augen, waren hochgewachsen, nur L. A. war ziemlich beleibt. Ihr Gesicht war ungewöhnlich schön; als Tochter eines russifizierten Griechen und einer russischen Mutter, wirkte sie wie der Typ einer klassisch-griechischen Schönheit, wie eine antike Statue. Ihre Gesichtszüge waren makellos: oval, mit einer wohl geformten Nase, großen Mandelaugen, einem kleinen Mund – man konnte sie stundenlang wie eine eine schöne Skulptur bestaunen, solange sie nicht ihren hübschen, kleinen Mund öffnete. L. A. war wenig gebildet und wenig kultiviert und in dieser Hinsicht das vollkommene Gegenteil zu Vera Petrowna.

Beinahe an allem desinteressiert, lediglich während Eifersuchtsanfällen bewies sie ein beeindruckendes Temperament. Bei dem ersten Besuch unserer Familie lieferte sie meinem Bruder eine Eifersuchtsszene, die in jedem den Wunsch geweckt hätte, wegzulaufen, um sich ins Meer zu stürzen, obgleich es in diesem Moment keinen Anlass dazu gab. Für mich war all dies ein erneuter Anlass für lange Auseinandersetzungen sowie für die vollkommene Ablehnung von Eifersucht, das für mich ein demütigendes Gefühl sowohl für denjenigen, der Eifersucht verspürt, als auch für denjenigen, auf den die Eifersucht zielt, darstellt. Natürlich theoretisierte ich, obgleich auch ich mit etwas Ähnlichem seitens Lida erfahren hatte, als diese bestrebt war, mich zu ihrer alleinigen Freundin zu machen.

Mein Bruder wurde bald von Staraja Russa an einen kleinen Ort versetzt, der noch ländlicher war, dafür nicht weit von Leningrad. Dieser war ein Eisenbahnknotenpunkt, an dem mein Bruder als Divisionsingenieur arbeitete. Die Arbeit war nervenaufreibend. Ein nicht der Partei angehöriger Divisionsingenieur hatte einen der Partei angehörigen Stellvertreter, der technisch schlecht ausgebildet, aber politisch zurecht geschliffen wurde. Mein Bruder rieb sich auf, um die Eisenbahnlinie in Ordnung zu halten und stolperte fortwährend über die Tatsache, dass es unmöglich war, das nötige Material zu bekommen. Wenn er der Zentrale mitteilte, dass 2000 Schwellen verfault seien und diese ausgetauscht werden müssten, lieferte man ihm lediglich 200 neue Schwellen. „Und woher soll man die restlichen 1800 nehmen?“ – „Regeln Sie das doch selbst“. Aber für die stümperhafte „Organisation“, und vor allem für ein Eisenbahnunglück, das durch verfaulte Schwellen verursacht wurde, musste mein Bruder sich verantwortlich zeichnen und das ausnehmend hart.

Die Nähe zu Leningrad hätte die Ehe meines Bruders mit Vera Petrowna möglicherweise wieder ins Gleichgewicht gebracht, wenn er ein wenig gewartet hätte. Sie hätte für die Gesangsstunden nach Leningrad fahren können. Aber die Angelegenheit war bereits erledigt. Die Bestrebungen meines Bruders, die neue Frau zu schulen, hatten jedoch keinen Erfolg. Er versuchte, sie nach Leningrad in die Oper oder ins Schauspielhaus zu entführen, aber sie langweilte sich, von allen Bühnen akzeptierte sie lediglich das billige Revuetheater.

Seinen eigenen Sohn besuchte mein Bruder heimlich, da L. A. auf die frühere Frau eifersüchtig war und ihm auch Besuche seines eigenen Sohns untersagte. Sie wollte ihm selbst einen Sohn schenken, gebar aber eine Tochter, die dritte für sie, sie verlor jegliches Interesse an dem Kind. Die Wohnung war Staatseigentum und unweit seiner Dienststelle, so dass mein Bruder von Zeit zu Zeit von der Arbeit vorbeischaute, um der kleinen Galja das Milchfläschchen zu geben oder sie sogar zu wickeln, während L.A. auf dem Bett lag und schnulzige Roman las. Die älteren Töchter wurden sich selbst überlassen. Tamara, die älteste, hatte das Herz auf dem rechten Fleck, war widerstandsfähig und bereits vollkommen selbstständig. Aber die zwölfjährige Ljudmila wuchs zu einem richtigen Wildfang heran. Dabei schien sie im Gegensatz zu Tamara eine eben solche Schönheit wie ihre Mutter zu werden, nur in einer „hellen Version“ – eine Blondine mit blaugrauen Augen. Nachdem sie von der Schule gekommen war, machte sie sich ein Butterbrot und lief nach draußen. Warmes Essen bereitete L.A. nur am Abend zu.

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Ich kann mich nicht erinnern, ob im Zusammenhang mit den familiären Aufregungen anlässlich der Trennung und neuen Heirat meines Bruders der religiöse Blickwinkel der An gelegenheit berührt wurde. Dabei ließ sich mein Bruder mit Vera Petrowna kirchlich trauen, ließ sich scheiden und heiratete L.A., natürlich lediglich standesamtlich. Mein Bruder wuchs vor der Revolution auf, besuchte die Realschule und hatte selbstverständlich Religionsunterricht, ging in die Kirche. Aber der Gedanke, dass die Ehe ein Sakrament darstellt, das nicht gebrochen werden darf, kam ihm anscheinend überhaupt nicht in den Sinn. Zu der Zeit habe ich, natürlich, auch nicht darüber nachgedacht, aber später kam ich mehr als einmal nicht umhin, festzustellen, wie unreligiös in der Tat die russische Intelligenzija vor der Revolution im alltäglichen Leben war. Ich spreche nicht von den Revolutionären oder überzeugten Atheisten, niemand aus unserer Familie gehörte diesen an. Nichtsdestotrotz ließ mein Bruder heimlich Galja taufen, obgleich ihr Geburtsjahr, 1937, eines der schrecklichsten war.

Aber ein Risiko einzugehen, des Kindes willen, war noch möglich, Selbstvervollkommnung, Selbstdisziplin, die ständige Überwindung eigener Kränkungen und Leidenschaften im Namen von Jesus Christus – darüber haben wenige nachgedacht. Und nur wenige denken auch jetzt darüber nach.

Ich erzähle sogleich auch vom Schicksal meiner Schwestern. Wie ich bereits erwähnt habe, hatte meine Schwester noch vor meiner Geburt geheiratet, und mein ältester Neffe, Zhorzhik, war anderthalb Jahre älter als ich. Meine Eltern warnten meine Schwester, da sie sie kannten, vor dieser Heirat. Tanja war eine eindrucksvolle Schönheit. Später verrohte ihr Gesicht leicht, aber die großen, blaugrauen Mandelaugen blieben äußerst schön, die Figur war voll und dabei wohl proportioniert, man konnte sie als wohlgebaut bezeichnen. Mit 18 Jahren war sie gertenschlank, eine wahrhaftige Schönheit. Boris Jakowljewitsch war doppelt so alt wie sie und erstaunlich hässlich. An ihn erinnere ich mich in seinen späteren Jahren, er schien irgendwie quadratisch mit einem runden Kopf und kleinen verschleierten Augen. Zu der Zeit war er vielleicht schlank, aber auf jeden Fall einen Kopf kleiner als Tanja und mit einem unschönen Gesicht.

Meine Eltern konnten sich nicht vorstellen, dass diese Ehe Bestand haben würde. Aber Tanja erklärte, dass sie ihn lieben würde. Boris Jakowljewitsch war Jude, Tanja wollte sich jedoch kirchlich trauen lassen. Er ließ sich taufen und sie ließen sich trauen. Die Bedenken meiner Eltern allerdings sollten sich bewahrheiten. Zhorzhik war noch keine zwei Jahre alt, als Tanja ihren Mann und den kleinen Sohn sausenließ und mit einem „Bild von einem Mann“ davon lief. Ihre Familie lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Petrograd, wohin sich Boris Jakowljewitsch dienstlich versetzen lassen konnte. Kirill Alexandrowitsch, mit den Tanja davon gelaufen war, war in der Tat gutaussehend: hochgewachsen, stattlich, mit schönen, aber unangenehmen Gesichtszügen. Ich erinnere mich lediglich schemenhaft an ihn, ich war zu der Zeit noch sehr jung, und später habe ich ihn nicht getroffen. Er war verheiratet, hatte zwei Töchter und versprach Tanja, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, um sie zu heiraten. Natürlich ging es hier nur um eine standesamtliche Trauung. Und erneut stellt sich die Frage: Warum wollte sich Tanja mit Boris Jakowljewitsch kirchlich trauen lassen?

Weil es schön anzusehen war, weil es keine vollkommen ausgestorbene Tradition darstellte? An das Sakrament der Ehe glaubte sie offensichtlich auch nicht, da sie leichtfertig ihr Familie zerstörte und noch eine fremde zerstören wollte. Immerhin ging sie zum Nikolajewski Institut zur Schule, an welchem die gesamte Erziehung religiös ausgelegt war. Allerdings vermittelte dieses keinen tiefen Glauben, denn die traditionelle Religiösität verblühte angesichts der neuen Lebensumstände. Kirill Alexandrowitsch hielt sein Versprechen nicht, er ließ Tanja mit einem kleinen Sohn sitzen und kehrte zu seiner Familie zurück. Also ereilte Tanja das Schicksal, dem sie ihren Mann und ersten Sohn überlassen hatte. Boris Jakowljewitsch beschwor sie, zu ihm zurückzukehren, nachdem sie allein mit dem Kind zurückgeblieben war. Er sagte, er würde Dimotschka adoptieren und erklärte feierlich, dass er keinen Unterschied zwischen den Jungen machen und Dimotschka wie seinen eigenen Sohn lieben werde.

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Meine Eltern beschworen Tanja, zu ihrem Mann zurückzukehren, sie waren überzeugt davon, dass Boris Jakowljewitsch sein Versprechen halten würde. Aber Tanja kehrte nicht zurück. So dass ihre Söhne wie Halbwaisen aufwuchsen, einer ohne Mutter, der andere ohne Vater. Da Tanja arbeiten musste (sie lernte Schreibmaschine und arbeitete als Schreibkraft und Sekretärin), irrte Dimotschka durch verschiedene Familien, in die sie ihn gegen Bezahlung gab. Sie wollte, dass meine Eltern Dimotschka aufnehmen, und mein Vater war einverstanden, aber Mama protestierte. Sie war bereits nicht mehr die jüngste, ich war noch sehr klein und wuchs zu einem kränklichen Kind heran. Mama sagte, dass es zu schwierig für sie sei, noch ein Kleinkind groß zu ziehen. Schade! Ich wäre sonst mit einem jüngeren Bruder aufgewachsen.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine Begebenheit erwähnen. Mein Taufpate war der Geistliche o. Wassilij. Leider starb er sehr früh, ich war zu dem Zeitpunkt gerade mal 4 Jahre alt. Aber ich erinnere mich an ihn, da er uns oft besuchte, aus irgendeinem Grund immer allein, ohne Frau. Nach seinem Tod zerbrachen jegliche Verbindung zu seiner Familie. Viele Jahre später kam eine alte Frau zu uns, seine Frau. Sie habe gehört, sagte sie, dass Tanja frei sei. Tanja hatte sich in der Tat standesamtlich von Boris Jakowljewitsch trennen lassen, und eine kirchliche Scheidung fand nicht statt, so dass er lediglich auf Verlangen ihr Ehemann sein könne, da sie ihn betrogen hatte. Aber B. J. war nicht interessiert, er beabsichtigte nicht noch einmal zu heiraten, lebte ausschließlich für den Sohn.

Die alte Frau sagte, ihr Sohn, ein Ingenieur in Slatoust, im Ural, sei noch nicht lange verwitwet, dessen Frau sei jung gestorben und habe eine kleine Tochter zurückgelassen. Er sollte wieder heiraten, allein schon wegen des Kindes, und er habe früher, in sehr jungen Jahren, für Tanja geschwärmt. Also beschloss die alte Frau als Heiratsvermittlerin aufzutreten: Würde Tanja nicht zu ihrem Sohn fahren?

Für beide Kinder wäre es besser, eine heile Familie zu haben. Mama schrieb Tanja und diese erklärte sich einverstanden. Kurz bevor Tanja ihre Reise nach Slatoust antreten sollte, kam erneut eine sehr aufgelöste alte Frau zu uns und sagte, dass sie drei Nächte in Folge ihren verstorbenen Mann im Traum gesehen habe, er war sehr zornig, pochte an die Tür und drohte ihr. „Wird diese Ehe glücklich sein?“, sagte sie nachdenklich. Aber sie, die Witwe eines Geistlichen, dachte nur an das irdische Glück. Sie begriff nicht, dass ihr verstorbener Mann ihr drohte, weil sie die Sünde des Ehebruchs ermöglichte, sowohl seitens Tanjas wie auch seitens ihres Sohnes. Tanja war vor der Kirche mit B.J. verheiratet, von der Kirche ist diese Ehe nicht aufgehoben worden, und sie konnte aus Sicht der Kirche mit niemanden sonst eine rechtmäßige Ehe eingehen, unabhängig davon, ob ein Eintrag beim Standesamt existiert. Aber die Witwe des Geistlichen verstand dies nicht. Was konnte man denn von einem Laien erwarten? Bleibt lediglich diese traurige Geschichte kurz zu Ende zu erzählen. Tanja und der Sohn des Geistlichen wurden standesamtlich vermählt. Ob sie glücklich waren, weiß ich nicht. Nach vier Jahren erkrankte er an kruppöser Lungenentzündung und verstarb plötzlich. Tanja kehrte mit Dimotschka in unsere Region zurück. Was aus ihrer Stieftochter wurde, weiß ich nicht.

Von meiner Schwester Lena werde ich später berichten. Als ich an der Universität studierte, entwickelte sich zwischen uns, trotz des Altersunterschieds, eine tiefe Freundschaft, von der auch noch die Rede sein wird.

Dieses für meine Entwicklung in vielerlei Hinsicht bedeutende 8. Schuljahr fand in den Sommerferien seinen Abschluss in einer wunderschönen Reise. Obgleich mein Vater Dozent an der Pädagogischen Universität war, unterrichtete er nebenberuflich Mathematik am Technikum der Eisenbahn. Daher hatte er im Jahr Anrecht auf zwei kostenlose Eisenbahntickets beliebiger Entfernung: eines für die gesamte Familie, das andere für sich allein. Wir konnten nicht jedes Jahr lange Reisen antreten. In der UdSSR waren sie mit allen möglichen Schwierigkeiten verbunden, vor allem, weil es für einfache Sowjetbürger zu dieser Zeit fast unmöglich war, in Hotels zu übernachten. Aber bereits 1934 nutzen wir ein solches Ticket für eine Reise auf die Krim, und 1936 beschlossen wir, in den Kaukasus zu fahren.

Die Verwandtschaft überredete auch einen Freund meines Vaters, den Künstler Rechermacher, den ich bereits erwähnte, uns zu begleiten. Er war in erster Linie Landschaftsmaler, wenngleich er auch Portraits zeichnete, und seine Schwester sagte ihm, dass er auch die Landschaften der südlichen Länder sehen sollte. Zu viert belegten wir ein ganzes Coupe und tagsüber saßen wir nach Belieben. Wir reisten natürlich in der Holzklasse, aber abends brachte der Zugbegleiter Matratzen, Bettdecken und Bettwäsche. Tagsüber klappten wir die oberen Liegen um, so dass unten genug Raum für vier Menschen war. Auf den Bahnhöfen wurde der Teekessel mit kochendem Wasser aufgefüllt (wobei es richtig kochendes Wasser, nicht nur heißes Wasser, das man im Westen bekommen kann) und gossen Tee auf.

Das Reisen über das ausgedehnte Eisenbahnnetz Russlands war gemütlich, wenn auch nicht das gleiche, wie vor der Revolution, dennoch blieb ein Teil der Tradition zu dieser Zeit noch erhalten. Das Jahr 1936 war bezüglich der Versorgungssituation eines der besten Vorkriegsjahre. Nach der schrecklichen Hungersnot und der Kollektivierung gelang es irgendwie, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu verbessern. Aber nach diesem Jahr verschlechterte sich diese beständig. In diesem Jahr gab es nicht nur keine hungernden Kinder, wie zwei Jahre zuvor, auch die Frauen verkauften auf den Bahnhöfen gekochten Mais und Obst. Mama erzählte, dass vor der Revolution alle möglichen Speisen an den Fenstern der Waggons angeboten wurden: Brathähnchen, Kotelett, unterschiedlichste Kuchen und Törtchen, aber verglichen mit 1934 kam gekochter Mais bereits Luxus gleich, immerhin Lebensmittel. Die Zugbegleiterin, die nicht nur einmal diese Strecke gefahren war, kam in den Wagon und sagte, dass es an der nächsten Station viele Kirschen geben würde, dass ein Eimer gekauft und geteilt werden sollte, da es günstiger sei. Das haben wir dann auch getan.

An der nächsten Station kauften wir einen Eimer Aprikosen. Und als wir durch die Oblast mit deutscher Bevölkerung fuhren, wurden auf den Bahnhöfen Blumensträuße verkauft. Das war bemerkenswert. Nur die deutschen pflanzten Blumen an und versuchten, diese zu verkaufen. Die Passagiere kauften diese, wussten aber im Nachhinein nicht, in welche Behältnisse man das Wasser gießen sollte, damit die Blumen nicht sofort verwelkten, aber Blumensträuße waren zu Sowjetzeiten auf den Bahnhöfen so außergewöhnlich, dass man nicht diejenigen betrüben wollte, die sie gebracht hatten. Von Moskau bis Mineralnyje Wody fuhren wir anderthalb Tage – zwei Tage und eine Nacht. Und die Pünktlichkeit war zu der Zeit ebenfalls verbessert, dennoch wurde vollkommen grundlos der Fahrplan so gestaltet, dass eine Minute nach uns auf demselben Gleis der Zug nach Sotschi fuhr. Als wir in den Bahnhof fuhren, fuhr genau eine Minute später der Zug nach Sotschi auf dem gegenüberliegenden Gleis ein. In den Kurven konnte man ihn sehen, er fuhr auf dem gleichen Gleis, nur auf den Bahnhöfen fuhr er eine Minute später auf dem gegenüberliegenden Gleis ein. Unsere Liegewagenkarten galten für den letzten Waggon und ausgerechnet zu uns kam die junge sympathische Zugbegleiterin und klagte, sie würde sich fürchten, besonders nachts: Was ist, wenn dieser Zug plötzlich in unseren letzten Waggon prallt? Ich weiß nicht, ob meine Eltern beunruhigt waren, sie hatten nichts gesagt, aber ich schlief blendend und fürchtete überhaupt nichts.

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Davor sind uns beim Umsteigen in Moskau zwei nennenswerte Begebenheiten zugestoßen. Als die Männern gingen, um die Fahrkarten zu entwerten und in der Reihe für die Liegeplatzkarten anstanden, saßen wir auf den weichen Sofas im Bahnhof. Da wir nachts durch Bologoje gefahren waren und nicht einschlafen konnten, schlug ich Mama vor, ein wenig auf dem Diwan zu schlafen. Sie schlief ein und schlug mir danach vor, auch ein wenig zu schlafen. Ich sagte, dass ich nicht schlafen würde, aber Mama bestand darauf und sagte, dass sie sich ausruhen konnte und nicht einschlafen würde. Ich gestattete mir einzuschlafen, aber als ich aufwachte, schlummerte Mama und ein Koffer fehlte. Glücklicherweise war dies der Koffer mit der Unterwäsche, schlimmer wäre es gewesen, wenn der Koffer mit Oberbekleidung entwendet worden wäre.

Aber es stellte sich heraus, dass es überhaupt nicht einfach war, in der Hauptstadt des Landes des Sozialismus Unterwäsche zu kaufen. Man konnte lediglich Schwimmbekleidung kaufen, was natürlich auch wichtig war. Wir sind noch nach Smolensk zu Verwandten meines Vaters gefahren, und diese stellten uns einiges zur Verfügung, das übrige konnten wir in Smolensk kaufen. Das alles kam einem Glücksspiel gleich, plötzlich konnte man in irgendeinem kleinen Laden auch ein Hemd finden. Wir gingen in Moskau zur Bahnhofsmiliz, um den Diebstahl zu melden, aber dort zuckten sie nur gleichgültig mit den Schultern: wir hätten selber aufpassen sollen, das ist sicher.

Die zweite Begebenheit, die sich auf eben selben Moskauer Bahnhof zugetragen hatte, hätte viel gefährlichere Konsequenzen haben können. Nachdem wir unsere Fahrkarten und Liegeplatzausweise besorgt hatten, mussten wir noch auf den Zug warten. Der Maler, der das Publikum betrachtet hatte, wurde auf eine außergewöhnlich hübsche Frau aufmerksam und wollte ihr Profil in sein Notizblock zeichnen. Er öffnete den Notizblock und begann mit einem Bleistift zu skizzieren. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter: Vor ihm stand ein NKWD-Angehöriger: „Wozu benötigen Sie einen Plan des Bahnhofs?“

Der Maler wurde in die Bahnhofsabteilung des NKWD geschleppt, wo sie darauf beharrten, dass er zu Spionagezwecken den Plan des Bahnhofs gezeichnet hatte. Er zeigte ihnen das Profil der Frau, beteuerte, dass er noch nicht einmal an einen Plan des Bahnhofs gedacht habe, aber sie glaubten ihm nicht, behaupteten, dass das Profil der Frau lediglich zur Tarnung diente und er in Wirklichkeit den Plan des Bahnhofes aufzeichnete. Sie wollten wissen, wo er diesen versteckt habe. Ihn rettete eine bizarre Beglaubigung, die er klugerweise schließlich aus der Tasche zog und zeigte. Die Sache ist die, dass Pskow zur ersten Grenzzone gehörte. Die gesamte lange Landesgrenze wurde in drei Grenzzonen aufgeteilt: die der Grenze am nächsten gelegene Zone war der Grenzstreifen, danach folgte die zweite Grenzzone und schließlich die erste, die hundert Kilometer von der Grenze entfernt endete.

Aus dieser fand auch die Deportation der Familien von Inhaftierten zum 101. Kilometer statt, mit anderen Worten ausgedrückt, sie konnten sich dort ansiedeln, wo sie wollten, beginnend mit dem 101. Kilometer Entfernung von der Grenze. Pskow hätte eigentlich zur dritten Grenzzone gehören müssen, da es insgesamt nur 15 Kilometer von der damaligen estnischen Grenze entfernt war, aber die Stadt wurde aus der zweiten und dritten Zone ausgeschlossen und zur ersten gezählt. Wir hatten alle in unseren Ausweisen den Stempel „Bewohner der ersten Grenzzone“ und konnten mit diesem durch die gesamte erste Grenzzone reisen, aber nicht die zweite und dritte betreten. Unsere Verwandten mussten einen Sonderpassierschein bekommen, wenn sie uns besuchen wollten, was ein grauenhaftes Verfahren darstellte, was eine Vielzahl an Bescheinigungen und Wartezeit mit sich brachte. Der Maler jedoch, der vornehmlich Landschaften zeichnete, hatte vom NKWD in Pskow eine Sondergenehmigung für das Malen der Landschaften um Pskow. Nur selten konnte er sich ungestört seiner Kunst widmen, kaum stellte er seine Staffelei auf irgendeiner Lichtung oder in irgendeinem Waldrain auf, lief bereits irgendein Komsomol-Aktivist vom Dorf zu ihm und wollte eine Erlaubnis zu sehen, und er musste diese jedem Grünschnabel zeigen. Aber jetzt rettete ihn diese Bescheinigung. Der Moskauer NKWDist schaute sauer und entließ ihn. Auch der Maler hatte es ordentlich mit der Angst zu tun bekommen, aber er hatte auch jeden Grund dazu.

In Mineralnyje Wody hielten wir uns nicht lange auf, sondern fuhren durch nach Pjatigorsk. Gewöhnlichen Sowjetbürger war es nach wie vor nicht möglich, in Hotels zu übernachten, aber 1936 gab es bereits viele, die privat ein Zimmer vermieteten. So fanden wir in Pjaigorsk ein Zimmer. Wir besuchten den Ort des Duells von Lermantow und dessen Haus.

Und völlig unerwartet für uns selbst erklommen wir den Maschuk. Mama war nicht dabei, sie konnte nicht viel laufen. Aber mein Vater, der Maler und ich gingen spazieren und begannen die Felsen, die auf den Maschuk führten, hinaufzusteigen, wir wollten eigentlich nur ein wenig hinaufsteigen und danach zurückkehren. Unbemerkt stiegen wir ziemlich weit hinauf, und als wir hinab schauten, sahen wir, dass wir an dieser Stelle nicht hinabsteigen konnten: es war einfach zu steil. Bekanntermaßen ist es am steilen Hang einfacher hinaufals hinabzusteigen. Also waren wir gezwungen, weiter zu klettern, bis zur Spitze. Die Spitze war nicht felsig, dorthin fuhr sogar ein Bus über einen sich schlängelnden Weg und transportierte Touristen. Wir waren außer Atem und wollten etwas trinken. Aber nirgendwo gab es einen Stand mit Getränken. Indes entdeckten wir abseits eine alte Frau mit einem Korb, aus welchem Flaschen mit Getränken gezogen wurden. Sie verkaufte uns Limonade und erzählte, dass sie zu Fuß die schweren Flaschen den Berg hinaufschleppt, die sie in den Geschäften der Stadt gekauft hatte, um sich ein paar Groschen dazu zu verdienen, weil auch die Touristen durstig seien. Dabei befürchte sie die ganze Zeit, dass man sie erwischen und des Schwarzhandels bezichtigen würde. Sie zeigte uns einen viel flacheren Abstiegsweg.

Von Pjatigorsk fuhren wir nach Wladikawkas. Die Stadt trug zu der Zeit bereits den abscheulichen Namen Ordschonikidse, aber alle nannten dieses reizende Bergstädtchen Wladikawkas, eine Bezeichnung, die zu ihm passte, sie hatte etwas Symbolisches. Und auch dort fanden wir privat vermietete Zimmer.

Unsere Fahrkarte war ein Rundreiseticket über Baku, Tiflis nach Batumi. Aber wir wollten die Georgische Heerstraße nehmen, die ein Bus von Wladiwostok bis Tiflis entlang fuhr. Baku hat uns nicht interessiert, aber diese beeindruckende Straße wollten wir uns anschauen. Wir hatten bereits Busfahrscheine für einen bestimmten Tag gekauft, als ich plötzlich erkrankte. Ich entwickelte Fieber, die Temperatur stieg bis auf 40 Grad, aber ansonsten gab es keine anderen Krankheitssymptome: keine Erkältung, keine Bauchschmerzen. Wir ließen einen Arzt holen, aber er konnte nichts feststellen, verabreichte mir ein fiebersenkendes Mittel und sagte, dass man abwarten müsse. Das Mittel half nicht, am nächsten Tag hatte ich eine ebenso hohe Temperatur. Wir konnten natürlich nicht mit dem vorgesehenen Bus fahren. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass dieser Bus in einen Bergrutsch geriet; dank der jungen Busfahrerin, die nicht die Fassung verlor und Ruhe bewahrte, konnten alle gerettet werden, dennoch wurden viele Passagiere durch die herbafallenden Steine verletzt. Danach brach ein ganzes Stück vom Berg ab und die Straße wurde für eine längere Zeit gesperrt.

Aber genau an diesem Tag verschwand mein Fieber ebenso plötzlich, wie es aufgetreten war. Ich war wieder vollkommen gesund.

Die Georgische Heerstraße zu nehmen, war bereits ausgeschlossen, aber uns wurde gesagt, dass man ein Taxi bis zur Steinbruchstelle nehmen und sich so den schönsten bergigen Teil der Straße anschauen könne, danach fiele sie ins Flachland ab. Obgleich ein Taxi teuer war, legten wir mit dem Maler zusammen und beschlossen, dies zu tun. Wir begannen ein Taxi zu suchen, aber weit gefehlt! Uns wurde gesagt, dass in Wladiwostok Taxis lediglich für ausländische Touristen zur Verfügung standen und einfache Sowjetbürger würden keine Taxis benötigen. „Übrigens“, fügte man am Taxistand hinzu „ihr könnt neben einem Hotel für ausländische Touristen sitzen und darauf warten, bis eines der Taxis frei wird und wenn kein ausländischer Tourist dieses benötigt, könnt ihr ein Taxi nehmen“. Also saßen wir auf einer kleinen Bank, während wir die geschniegelten Intouristen betrachteten, zugegebenermaßen, mit einem unguten Gefühl. Aber wir hatten Glück. Ein Taxi wurde frei, und wir konnten dieses nehmen. Ich werde niemals diese wunderschöne Fahrt vergessen. Was sind die Alpen im Vergleich zu den wilden kaukasischen Bergen und dem Terek, der „springt wie eine Löwin mit einer zotteligen Mähne auf einem Gebirgsrücken“.

Die Straße war nicht ungefährlich, hie und da gab es Steinbrüche und der Weg war eng; an einer Stelle übertaktete der geschickte Chauffeur das Auto und rutschte auf zwei Rädern, während die beiden anderen zeitweise über einem Abgrund hingen. Das alles dauerte lediglich einen Atemzug, zum Entsetzen meiner Mutter und zu meiner Entzückung.

Danach fuhren wir mit der Eisenbahn über Baku, wo wir keinen Halt machten, nach Tiflis. Von Tiflis blieb mir lediglich ein allgemeiner Eindruck von Schönheit sowie der Fülle herrlicher Farben. An Einzelheiten kann ich mich aus irgendeinem Grund nicht erinnern, wir blieben auch kürzer in Tiflis, als angenommen, da wir wegen des Steinbruchs Tage auf der Georgischen Herrstraße verloren hatten.

Tiflis verließen wir mit dem Abendzug, wir konnten Schlafplätze erstehen, aber ach,
den Weg sahen wir nicht. Morgens erwachte ich auf der oberen Liege, schaute aus dem Fenster und schnappte nach Luft. Mir schien, als sei dies nicht wirklich, sondern eine schicke Dekoration: enzianblaues Meer, gelber Sand und Palmen. Danach habe ich viele verschiedene Meere, gelben Sand und Palmen sehen dürfen, aber in dieser Kombination: Palmen direkt auf gelbem Sand am Meeresstrand sah ich allenfalls in al-Arisch, an der Grenze zur Wüste Sinai.

Auch in Batumi blieben wir nicht lange, von dort fuhren wir nach Sochumi, wo wir uns ein wenig erholen und baden wollten. Aber in Sochumi hatten wir nicht viel Glück. Ein Zimmer in Strandnähe zu finden, gelang uns nicht, wir mussten ziemlich weit bergauf laufen, was für Mama schwierig war. Aber das war nur halb so schlimm, schlimmer war, dass direkt hinter dem Häuschen ein kleines Gewässer mit Malariamücken lag. Aus Unerfahrenheit hatten wir dies nicht bemerkt. In Sochumi hielt sich zu der Zeit meine Cousine Nina auf, die Tochter von Mamas Schwester, deren Mann, ein Ingenieur, verhaftet worden war.

Nina war im Alter meiner Schwestern. Verheiratet war sie mit einem Wissenschaftsbiologen, der zusammen mit Ärzten an der medizinischen Anwendung von Schlangengift arbeitete. Er reiste viel durch Georgien, Armenien und Mittelasien, durch Gebiete, in denen Giftschlangen zu finden waren, insbesondere die gefährliche Viper lebetina, eine kurze, dicke, graue Schlange mit einem Hörnchen auf dem Kopf. Nina begleitete ihn oft als Sekretärin. Nun waren sie mit der ganzen Familie in Sochumi, wo es ein bekanntes Terrarium gab. Der Sohn der Cousine, Dodik (Danill) war drei Jahre jünger als ich. Nina kam bei uns vorbei, erblickte hinter dem Haus diesen kleinen Teich und begann die Wirtin anzuschreien: „Übergießen Sie unverzüglich diesen Malariaherd mit Kalkhydrat, ansonsten werde ich das der Hygieneinspektion melden!“

Die Wirtin bekam es mit der Angst zu tun und organisierte sehr schnell die Beseitigung dieses kleinen Teiches. Aber für meinen Vater war es bereits zu spät: er wurde von einer Malariamücke gestochen. Die Malaria brach erst zu Hause, in Pskow aus und zu seinem Glück, hatte mein Vater lediglich drei Attacken; später bezwang einfaches Chinin die Krankheit und sie brach nicht mehr aus, was erstaunlich war, denn Malaria hat die lästige Eigenschaft, selbst nach Jahren wieder ausbrechen zu können.

Das offene blaue Meer, der gelbe Sand und die Palmen haben mich erstaunlich schnell gelangweilt. Baden war auch nicht ganz nach meinem Geschmack: ein viel zu langer, flacher Strand. Man musste sich zu lange durch die Hitze schleppen, um zu einer tiefen Stelle zu kommen, an der man schwimmen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie ich zwei Jahre zuvor in Sewastopol direkt von der Treppe in die Tiefe sprang. Das war wohltuend gewesen. Das subtropische, heiße und feuchte Klima habe ich überhaupt nicht ertragen können, und ich erinnere mich daran, wie ich mit Dodik einmal eine heiße Straße in Sochumi entlangschlurfte und wir uns wild danach sehnten, wonach uns völlig unvermutet verlangte: nach dem feinen, kalten Petersburger Herbstregen.

Hier und da haben sogar wir, obgleich wir nur kurz in Georgien waren, die nicht sehr gute Beziehung einiger Georgier zu Russen bemerkt. Vollkommen unberechtigt, denn zu der Zeit hat doch ihr eigener Landsmann alle unterdrückt. Nina erzählte mehr. Leider muss man zugeben, dass die Haltung, die jetzt zum Ausdruck kommt, bereits zu der Zeit sukzessiv zu wachsen begann. Aber es ist schwer zu glauben, dass dies die Ansichten der Mehrheit waren. Nina erzählte allerhand, nicht nur über romantische Übernachtungen in alten Türmen, wo sich laut Überlieferung Geister aufhielten, sondern auch von den Bräuchen der Georgier und Armenier. Sie sagte, dass die Frauen bei den Georgiern sich zu der Zeit immer noch unterdrückt wurden. So wurden sie einmal von einem georgischen Arzt zum Abendessen eingeladen. Irgendeine Frau bediente sie, tischte das Essen auf, nahm aber selbst nicht am Tisch Platz. Sie dachten, sie wäre eine Bedienstete, dass der Arzt nicht verheiratet sei. Später zeigte sich, dass sie seine Ehefrau war. Die Armenier hingegen, haben ihre Ehefrauen wie Frauen allgemein hoch geschätzt. Das klingt ein wenig seltsam in Anbetracht der Tatsache, dass die Täuferin von Georgien die Heilige Nino war. Aber ich gebe lediglich das weiter, was meine Cousine gesagt hatte. Sie stieß halb scherzhaft, halb ernsthaft hervor: „Ich habe einen Sohn, ich werde ihm raten, eine Georgierin zu heiraten, sie wird sich um ihn kümmern. Hätte ich eine Tochter, würde ich ihr raten, einen Armenier zu heiraten“.

Von Sochumi fuhren wir nach Sotschi, wo wir eine Nacht verbringen wollten, bevor wir die Heimfahrt antreten wollten. In Sotschi waren wir geplättet angesichts der Vielzahl der Stadtbewohner, die eine Zimmer zur Übernachtung anboten und sich gegenseitig mit dem Preis auszuschlagen versuchten. Wir haben gute Räumlichkeiten zum Übernachten gefunden und die Hausherren waren dermaßen zufrieden, dass wir sie ausgewählt hatten, dass sie uns eine ganze Schüssel mit dunklen Pflaumen aus ihrem Garten schenkten.

Zwischen meinen Eltern gab es Streitigkeiten, wenn auch keine heftigen: Mama wollte Geld sparen, um ein kleines Haus mit Garten zu kaufen, was auch zu Sowjetzeiten erlaubt war, aber mein Vater liebte es zu reisen. Später, bereits im Exil, sagte Mama: „Das Haus hätten wir sowieso verloren, aber unsere Reiseerinnerungen bleiben uns bis ans Lebensende“. Ich bin auch froh, dass ich im Vorfeld der Flucht etwas von meinem Land gesehen habe.

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